Handarbeit - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sat, 03 Dec 2022 15:44:35 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Handarbeit - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Ausbildung statt Studium? Deshalb wird das Handwerk immer attraktiver https://condorcet.ch/2022/12/ausbildung-statt-studium-deshalb-wird-das-handwerk-immer-attraktiver/ https://condorcet.ch/2022/12/ausbildung-statt-studium-deshalb-wird-das-handwerk-immer-attraktiver/#respond Sat, 03 Dec 2022 15:44:35 +0000 https://condorcet.ch/?p=12490

Noch verdienen Akademiker in der Regel deutlich mehr als Handwerker, Pfleger und andere Dienstleister. Doch ein langfristiger Trend dürfte das schon bald verändern. Das ist gut und wichtig – denn nur so lässt sich ein Personalnotstand wirklich verhindern. Wir veröffentlichen einen Gastkommentar von Professor Thomas Straubhaar.

The post Ausbildung statt Studium? Deshalb wird das Handwerk immer attraktiver first appeared on Condorcet.

]]>
Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre, insbesondere internationale Wirtschaftsbeziehungen, an der Universität Hamburg.

Kluge Köpfe verdienen besser als fleißige Hände. Die Renditen für akademische Bildungsabschlüsse an Universitäten und Fachhochschulen sind enorm. Wer einen Bachelor- oder gar Masterabschluss erwirbt, darf mit einem deutlich höheren Einkommen rechnen als Gesellen oder Meister und alle, die eine beruflich-betriebliche oder gar keine Ausbildung aufweisen.

Wenn Kopf- gegenüber Handarbeit so sehr viel besser bezahlt wird, ist es doch kein Wunder, dass an allen Ecken und Enden Personal fehlt, das mit den Händen arbeitet. Wer ist noch bereit, zu putzen und zu reinigen, zu kochen und zu servieren, zu betreuen und zu pflegen oder als Brief- und Paketbote, Wachmann oder Kassiererin, im Schlachthof oder der Spargelernte oder auf dem Bau zu arbeiten und damit vergleichsweise wenig zu verdienen?

Viele meiden mehr als verständlicherweise schlecht bezahlte Handarbeiten, wenn in Homeoffice und Büros, vor Bildschirmen und in Konferenzräumen, reden und präsentieren, planen und beschreiben, entwickeln und standardisieren, optimieren und skalieren, überzeugen und verkaufen viel höhere Gehälter verspricht.

In aller Regel hat Qualifizierung eher mit Theorie und Wissen zu tun.

Natürlich gibt es viele Ausnahmen zur These, dass eine höhere Ausbildung mit mehr Kopf- und weniger Handarbeit einhergehe. So braucht es etwa in Kunst und Gewerbe oder auch in Gesundheit und Pflege besondere manuelle Fähigkeiten. Aber in aller Regel hat Qualifizierung eher mit Theorie und Wissen zu tun. Selbst bei dualen Ausbildungsgängen muss die handwerkliche Praxis allzu häufig und oft zu stark der hoch- und fachschulischen Konkurrenz weichen, die grundlegende Kenntnisse fördern soll.

Mit fortschreitendem Alter werden bei den Gehältern dann Lebenserfahrung, Führungseigenschaften oder soziale Kompetenzen wichtig(er). Auch sie haben alle eher mit der Person an sich und weniger mit deren Handfertigkeiten zu tun.

Der nationale Bildungsbericht 2022 veranschaulicht an vielen Stellschrauben, wie sehr in letzter Zeit der Trend boomte, über eine höhere Ausbildung einfacher Handarbeit zu entgehen. So etwa deckt er auf, dass in den 1970er-Jahren weniger als ein Fünftel der jungen Erwachsenen ein Studium aufnahmen, in den 1980er-Jahren waren es etwas mehr als ein Viertel, im Jahr 2005 noch immer weniger als ein Drittel.

Keine Anzeichen für den „Akademisierungswahn“

Aber 2020 waren es dann fast die Hälfte (nämlich 47 Prozent). Entsprechend nahm in den zehn Jahren zwischen 2010 und 2020 der Anteil von Menschen, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen, von 21 Prozent der Gesamtbevölkerung um fünf Prozentpunkte auf 26 Prozent zu.

Trotz des immensen Zulaufs der Hochschulen findet der Bildungsbericht 2022 bis jetzt keine Anzeichen für einen „Akademisierungswahn“ – also einer vom Münchner Philosophie-Professor Julian Nida-Rümelin postulierten Fehlentwicklung, wonach viel zu viele junge Erwachsene studieren, obwohl es für sie nach erfolgreichem Abschluss gar keinen praktischen Bedarf gäbe.

Eine „Überakademisierung“ ist jedoch nicht feststellbar. Wer einen Bachelor- oder Masterabschluss erwarb, hatte stets gute Chancen, eine dem akademischen Ausbildungsniveau angemessene berufliche Platzierung zu finden.

Digitalisierung wird nun jedoch das Pendel zurückschlagen lassen. Sie wird Handarbeit gegenüber Kopfarbeit massiv aufwerten. Denn künstliche Intelligenz wird künftig genau das auch bei der Kopfarbeit nachvollziehen, was bei industrieller Handarbeit längst vollzogen ist: den Ersatz von Menschen durch Technik.

Es war immer schon Wesen der Industrialisierung, Arbeitskräfte durch Automaten und Maschinen zu ersetzen. Mittlerweile werden in nahezu menschenleeren Fabrikhallen Massengüter produziert, Konsumgüter verpackt, Flüssigkeiten abgefüllt.

Künstliche Intelligenz wird menschliche Arbeit verdrängen

Die Digitalisierung wird Handarbeit gegenüber Kopfarbeit massiv aufwerten.

Der ersten Digitalisierungswelle fielen danach auch Handarbeiten im Dienstleistungssektor zum Opfer – aber zunächst eher solche für einfache Standardarbeiten. Im Handel und beim Einkaufen, an Kassen und bei Auskunftsstellen, Bestell- und Lieferverfahren oder beim Kundendienst – etwa für Klagen und Reparaturen wurde Arbeitskraft nicht mehr gebraucht. Stattdessen kamen elektronische Assistenzsysteme zum Einsatz, etwa wenn es um Anfragen und Beratung, Buchungen und Bestellungen, messen und zählen, Kontrolle und Mahnung, Verwaltung oder Zahlungsverkehr ging.

Künstliche Intelligenz und durch maschinelles Lernen besser trainierte und damit noch einmal leistungsfähigere Algorithmen werden nun jedoch zunehmend auch bei höher qualifizierter Kopfarbeit menschliches Denken und Tun erst ergänzen, bald jedoch auch verdrängen – etwa bei Finanzierung und Versicherung, Beratung und Kommunikation, bei Medien, im Bildungs- und Gesundheitswesen, in Lehre und Forschung oder bei der Produkt- und Prozessentwicklung.

In vielen Bereichen bleibt Handarbeit unverzichtbar

Demgegenüber werden sich Handarbeit und Handwerk vergleichsweise besser gegen technische Neuerungen behaupten können. Denn viele Dienstleistungen bedingen persönliche Kontakte, Emotionen und Empathie – beispielsweise in der Pflege oder der Betreuung von (Klein-)Kindern und alten Menschen.

Nur durch eine substanzielle Aufwertung der Handarbeit lässt sich ein Personalnotstand in vielen Bereichen des Dienstleistungswesens verhindern.

Andere Handarbeiten verlangen Feinmotorik, Beweglichkeit und Geschicklichkeit, die Automaten und Roboter so noch nicht standardmäßig bieten können – etwa, wenn es gilt, ein mit gefüllten Gläsern belegtes Tablett aus der Küche auf den Esstisch zu bringen. Und oft verlaufen personenbezogene Dienstleistungen nicht nach einem sich stetig wiederholenden Standardmuster, sodass sich eine aufwendige Programmierung für jeden Einzelfall nicht wirklich rechnet.

Handarbeit und Handwerk dürften also weniger rasch als Kopfarbeit durch Technik ersetzbar werden. Sie werden auch künftig gebraucht, in vielen Dienstleistungsbereichen mehr noch als Kopfarbeiter. Damit dürfte das heutige Gehaltsgefüge verrutschen. Löhne für einfache Handarbeit in personenbezogenen Dienstleistungen werden rascher steigen als für manche Kopfarbeit. Das wird dazu führen, dass putzen und kochen, pflegen und betreuen ökonomisch attraktiver werden. Und genau das muss so sein: Nur durch eine substanzielle Aufwertung der Handarbeit lässt sich ein Personalnotstand in vielen Bereichen des Dienstleistungswesens verhindern.

The post Ausbildung statt Studium? Deshalb wird das Handwerk immer attraktiver first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2022/12/ausbildung-statt-studium-deshalb-wird-das-handwerk-immer-attraktiver/feed/ 0
Das Bildungsbürgertum verachtet die “Handarbeit” https://condorcet.ch/2021/09/das-bildungsbuergertum-verachtet-die-handarbeit/ https://condorcet.ch/2021/09/das-bildungsbuergertum-verachtet-die-handarbeit/#comments Sat, 11 Sep 2021 07:33:39 +0000 https://condorcet.ch/?p=9301

Im Condorcet-Blog diskutiert der Gymnasiallehrer mit der Kindergärtnerin oder der Uniprofessor mit dem Reallehrer. Nun hat sich ein Lehrlingsbeauftragter aus Wuppertal mit einem kritischen Beitrag in unseren Diskursblog eingebracht. Tonio Cumbrix wirft dem Blog und den ihm tragenden Bildungsbürgertum eine latente Verachtung der Handarbeit vor.

The post Das Bildungsbürgertum verachtet die “Handarbeit” first appeared on Condorcet.

]]>

Bildung sollte sich weniger an einem Bildungsideal orientieren, wie es in Ihrem Blog angesagt ist, sondern an einem Bedürfnisideal. Es gibt Menschen, die wir lernbehindert nennen, weil sie Probleme haben die Mindestanforderungen, die man an Allgemeinbildung stellt, zu erreichen. Damit einher geht vor allem die Verachtung von Handarbeit und die daraus abgeleitete Verachtung für ein dreigliedriges Schulsystem. Paradox ist, dass sogenannte Künstler für ihre Produkte hochbezahlt werden, aber durchschnittliche “Handwerker”, in Bildungskreisen keine Anerkennung finden, die sich in einer gerechten Bezahlung niederschlagen würde.

Gäbe es keine Gewerkschaften, das Bildungsbürgertum würde es immer so organisieren, dass mittelmässige und schlechte Akademiker automatisch besser bezahlt werden, als gute Handwerker und Pflegekräfte.

Gäbe es keine Gewerkschaften, das Bildungsbürgertum würde es immer so organisieren, dass mittelmässige und schlechte Akademiker automatisch besser bezahlt werden, als gute Handwerker und Pflegekräfte. Auf Grund des höheren Status und der daraus folgenden besseren Bezahlung ist die Bildung natürlich immer mehr so organisiert, dass man diesen höheren Status erreichen soll. Die Folge ist, dass für diese Art der Bildung ungeeignete Menschen die angesetzten Ziele nicht erreichen werden, weil sie es einerseits nicht können und es andererseits gar nicht wollen.  Daraufhin schraubt man die Anforderungen herunter, so dass in Deutschland viele das Abitur machen, und das entgegen ihrer eigentlichen Bedürfnisse. Sie wählen dann eine Beamten- oder Akademikerlaufbahn, obwohl sie in einem Handwerk glücklicher UND nützlicher wären. Wären Bezahlung und Status gerecht, nach Wichtigkeit und Relevanz für die Gesellschaft verteilt, würde niemand die Hauptschule, oder auch Sonderschule, als abwertend empfinden. Auch ein Sonderschüler kann ein hervorragender Handwerker, ein Fitnesstrainer, Rapmusiker oder Fußballprofi werden und mit dem Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung ein glückliches Leben führen. Stattdessen schlägt im Verachtung entgegen, und den Betrieben und uns Lehrlingsausbildnern geeignete junge Menschen entzogen. Es ist klar, dass in Ihrem Blog eher das Bildungbürgertum vertreten ist. Menschen, die aus unerfindlichen Gründen glauben, jeder mit Gehirn könnte das Abitur schaffen und das Studium absolvieren. Er müsse es nur wollen. Ist man ein Versager, wenn man es gar nicht schaffen will? Ist man ein Versager, wenn man gar nicht Mathematik (ich rede nicht vom Rechnen) lernen will? Gegen seine Natur, gegen seine Gene zu lernen und zu handeln, ist schwer. Dazu kommt natürlich auch die Effizienz des Gehirns.

Nicht jeder mit zwei Beinen kann die hundert Meter unter 10 Sekunden laufen.

Nicht jeder mit zwei Beinen kann die hundert Meter unter 10 Sekunden laufen. Auch nicht, wenn alle sich ganz arg bemühen. Nicht jeder mit einem Gehirn ist ein Einstein. Aber nicht jeder kann auch komplexe sanitäre Kühlsystem einbauen, Bleche verschweissen und auf Baustellen immer wieder geeignete Lösungen finden. Übrigens. Wen meint Einstein, als er behauptete, die menschliche Dummheit ist unendlich?  Sprach er vor allem vom Bildungsbürgertum oder von seinem Gärtner?

Tonio Cumbrix ist Lehrlingsbeauftragter eines Spenglerbetriebs in Wuppertal

 

The post Das Bildungsbürgertum verachtet die “Handarbeit” first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2021/09/das-bildungsbuergertum-verachtet-die-handarbeit/feed/ 3
„Wir produzieren zu viele Akademiker für Jobs, die es nicht mehr gibt“ https://condorcet.ch/2021/04/wir-produzieren-zu-viele-akademiker-fuer-jobs-die-es-nicht-mehr-gibt/ https://condorcet.ch/2021/04/wir-produzieren-zu-viele-akademiker-fuer-jobs-die-es-nicht-mehr-gibt/#comments Tue, 06 Apr 2021 14:16:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=8235

Der Condorcet-Blog veröffentlicht hier ein bemerkenswertes Interview, das die WELT-Journalistin Andrea Seibel mit dem britischen Journalisten und Autor David Goodhart (64) führte. Goodhart veröffentlichte kürzlich sein Buch „Kopf, Hand, Herz. Das neue Ringen um Status. Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen“. Darin prognostiziert er ein jähes Ende der Akademisierung, die er in vielen Bereichen für nutzlos hält.

The post „Wir produzieren zu viele Akademiker für Jobs, die es nicht mehr gibt“ first appeared on Condorcet.

]]>
David Goodhart, britischer Journalist und Autor: Zu viele Akademiker für Jobs, die es so nicht mehr geben wird

Lange glaubte man, es sei gut, wenn möglichst viele Menschen studieren, sagt der Autor David Goodhart. Doch das Gegenteil sei wahrscheinlicher. Er prognostiziert einen Rückbau der Massenunis mitsamt ihrer akademischen Tyrannei.

Das Leben und die kulturellen Eigenheiten sind stärker als die Politik.

David Goodhart ist froh, dass seine Eltern, die vor einigen Jahren starben, Corona nicht mehr erleben mussten. Auch die Kinder sind aus dem Haus. Und vor seiner Tür liegt Hampstead Heath, der wunderbare Park in London. Ihm geht es also gut. Goodhart hat viel ZDF geschaut in den letzten Wochen und Monaten.

Der Vergleich Deutschlands mit Großbritannien reizt ihn. Ein Fazit ist, dass die Briten risikobereiter sind als die Deutschen. Das zweite: Wir geben der Politik zu viel Bedeutung und Einfluss. Das Leben und die kulturellen Eigenheiten seien stärker als die Politik.

WELT: Unsere Parlamente und Institutionen sitzen voller Akademiker, das Studium ist in unseren Leistungsgesellschaften zum einzigen Ausweis für Aufstieg und Wohlstand geworden. Aber wenn alle studieren und alle nur Akademiker sein wollen, stimmt etwas nicht mit der Gesellschaft. Was tun?

David Goodhart: Die Dinge sind aus der Balance geraten. Aber bitte, verstehen Sie mich nicht falsch. Wir benötigen mehr denn je hohe Intelligenz, schauen Sie doch allein, mit welcher Geschwindigkeit die Wissenschaft Corona-Impfstoffe entwickelte. Auch für den Klimawandel braucht es technisch-wissenschaftliche Expertise. Aber man muss wirklich nicht die Hälfte aller Schulabgänger an die Universitäten schicken, um eine gedeihliche Wissenschaft zu erreichen? Wir haben mittlerweile den Wendepunkt erreicht, weil wir zu viele Akademiker für Jobs produzieren, die es so nicht mehr gibt, und haben gleichzeitig massive Engpässe in der Pflege und dem Bereich technischer Entwicklung und Instandhaltung.

WELT: Viele Menschen, so sagen Sie, die nicht studieren, fühlen sich abgehängt, nicht respektiert, nicht gebraucht. Sie erklären mit dieser Entfremdung auch den gewachsenen Populismus.

Ein erfolgreiches Leben scheint nur dann gegeben, wenn man studiert hat und Teil der akademisch-kognitiven Klasse wird.

Goodhart: Die Ausbreitung der höheren Bildung samt kognitiv-professioneller Elite ist der Elefant im Raum des Populismus. Menschen, die nicht zur Uni gehen, erleben, dass die besten Jobs für die Hochschulabgänger reserviert sind. Ein erfolgreiches Leben scheint nur dann gegeben, wenn man studiert hat und Teil der akademisch-kognitiven Klasse wird. Doch wie gesagt, der Gipfel dieser Bewegung ist überschritten.

WELT: Haben wir denn jemals demokratische Gesellschaften erlebt, in denen Kopf, Handwerk und Herz in einer Balance waren? Vielleicht in der Nachkriegszeit, aber die war weniger komplex.

Viele der Kopfarbeiter heute vollziehen Routinearbeiten und sind nicht fähiger als viele Handarbeiter. Und doch haben sie weitaus höhere Einkommen.

Die Dinge sind aus der Balance geraten.

Goodhart: Der Gedanke, dass die Arbeit des Kopfes jener des Körpers oder des Herzens überlegen ist, stammt aus der Antike. Doch erst in den letzten Jahrzehnten entwickelte sich dieser starke Impuls der kognitiv-analytischen Arbeit. Zwischen 1970 und 2000 machte es durchaus Sinn, mehr Akademiker zu fördern. Durch den Ausbau des Sozialstaates entstanden viele solcher Jobs im medizinisch-therapeutischen Bereich, der Bildung und Hochschulbildung. Zudem produzierte die Wissensökonomie neue Arbeitsplätze in der Informationstechnologie. Wie Sie sagen, alles wurde komplexer. Wenn nur zehn Prozent der Schulabgänger an die Universität wechseln, wird das Statusgefüge der Gesellschaft nicht so leicht verletzt. 40 bis 50 Prozent aber führen zu einer großen Kluft. Und einer unfairen dazu. Niemand neidet einem brillanten Wissenschaftler oder Denker den Status und Erfolg, aber viele der Kopfarbeiter heute vollziehen Routinearbeiten und sind nicht fähiger als viele Handarbeiter. Und doch haben sie weitaus höhere Einkommen.

Produktivität und Innovation jedenfalls sanken dramatisch genau in der Zeit, als die Hochschulquote anstieg und die Investitionen in Forschungseinrichtungen nie höher waren.

WELT: Es ist ernüchternd und spannend zugleich, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Bildungsniveau der Bürger und dem Wirtschaftswachstum zu geben scheint.

Goodhart: Das ist der zentrale Punkt. Wir haben zu schnell geglaubt, es wäre gut für die Jugend wie auch für die Ökonomie, wenn so viele wie möglich studieren. Doch das Gegenteil scheint der Wahrheit näher zu kommen. Produktivität und Innovation jedenfalls sanken dramatisch genau in der Zeit, als die Hochschulquote anstieg und die Investitionen in Forschungseinrichtungen nie höher waren.

Wiedererstarken der Facharbeit

WELT: Sie prognostizieren ein Ende der ineffizienten Bildung und damit einen Rückbau der Massenunis mitsamt ihrer akademischen Tyrannei, deren Auswüchse (woke, gendern) wir gerade erleben – und ein Wiedererstarken der Facharbeit und menschlicher Dienstleistung. Woher nehmen Sie Ihren Optimismus?

Goodhart: Weil wir nicht mehr als 25 Prozent Schulabgänger brauchen, die ins akademische Training gehen. Stattdessen benötigen wir eine Bandbreite an Optionen für die Zeit nach der Schule, darunter Lehrberufe, spezielle berufsbildende und technische Ausbildungsgänge und Kunst-, Design- und Kreativfachschulen. Künstliche Intelligenz wird die Zahl der mittleren und unteren kognitiv-professionellen Jobs im Bereich des Rechts, der Buchhaltung, Medizin und Verwaltung radikal reduzieren. Die Signale des Marktes werden uns durchrütteln.

WELT: Pflege und Erziehung haben den größten Anteil an der Gesamtarbeitszeit unserer Gesellschaften. Sie sind „systemrelevant“, wie man gerade in der Corona-Krise sieht. Wieso werden sie dennoch so sträflich behandelt?

Goodhart: Weil in der Welt der Akademiker die kulturellen Dimensionen dominieren. Ich habe sie die „Anywheres“ in meinem letzten Buch genannt. Der hochgebildete „Irgendwo“ bevorzugt Mobilität und Offenheit, er kommt mit der sich rapide ändernden Welt klar. Und er sieht nur seine Karriere, bewegt sich in seiner Öffentlichkeit und schaut herab auf alles Häusliche oder Dienstleistende.

Wir brauchen eine pluralistischere Frauenbewegung, die nicht nur die ambitionierten Frauen anspricht

WELT: Eine der größten Paradoxien unserer heutigen Zeit ist, dass es die Emanzipation der Frauen war, die den Bereich der häuslichen Pflege (Kinder, Alte) durcheinanderbrachte und die Institution der Familie massiv schwächte. Wie kommen die Geschlechter und die Gesellschaften hier weiter?

Wir brauchen eine pluralistischere Frauenbewegung.

Goodhart: Wir brauchen eine pluralistischere Frauenbewegung, die nicht nur die ambitionierten Frauen anspricht, die natürlich gleichberechtigt mit Männern konkurrieren wollen, sondern auch die Frauen einschließt, denen Familie wichtiger ist als Karriere. Gleiche Karrierechancen meinten immer auch eine Abwertung der Hausarbeit als etwas, das jedem Menschen ein Gräuel sein muss. Auch hier kann die Pandemie wie ein Augenöffner wirken. Männer wie Frauen waren auf das Häusliche und intime Familiale zurückgeworfen wie schon lange nicht mehr.

 

WELT: Einer Ihrer verrücktesten Sätze ist jener: Krankenhäuser seien „unsere neuen Kathedralen“. Wohin führt das Bild?

Spital Liestal: Menschliche Fürsorge in
hässlichen Gebäuden

Goodhart: Die Krankenhäuser sind in unseren Gesellschaften die stattlichsten Gebäude und in den Städten oft der größte Arbeitgeber. Und doch sehen sie meist hässlich und abstoßend aus, obwohl sie doch eigentlich Symbol menschlicher Fürsorge und Solidarität sind. Der Gesundheitssektor wird in unseren alternden Gesellschaften wachsen, auch wenn es hier zum Einsatz von Robotern und künstlicher Intelligenz kommt. Anders als in der Autoindustrie oder dem Finanzsektor wird es den Gesundheitsbereich immer und überall geben, und er bietet gute Jobs auf jeder Ebene der Fähigkeitshierarchie.

WELT: Dass es weniger Metzger, Schneider und Bäcker gibt oder andere Berufe ganz aussterben, ist historisch betrachtet wohl unabdingbar. Was ist das essenzielle Problem der Handarbeit?

Der Bäckerberuf ist hart.

Goodhart: Beim Bäcker ist es wohl auch nicht überraschend, denn die Arbeit ist hart, und das auch noch zu antisozialen Zeiten. Die Menschen wollen einerseits komfortablere Jobs und andererseits weniger Routine. Und doch wird das Handwerk vital für unsere Gesellschaft bleiben, vielleicht auch, indem man das Unangenehme mehr automatisiert. Je reicher die Gesellschaften sind, desto mehr verlangen sie nach meisterlich gefertigten Produkten. Wir erleben doch gerade eine Renaissance der handwerklichen Produktion – von Kleidern bis zu Käse.

WELT: Was ist mit all den einfachen, ungelernten Arbeiten wie putzen, Regale auffüllen, bedienen, auf dem Feld ernten, Waren ausliefern. Meist werden solche Arbeiten von Migranten erledigt. Kann man diese Jobs wieder attraktiver machen?

Goodhart: Ich hoffe das. Wir haben das in der Pandemie wieder wahrgenommen, das Wirken all dieser Dienstleister, die im Verborgenen unser Leben am Laufen halten. Solange man die Menschen anständig bezahlt und ihnen einen gewissen Respekt entgegenbringt, können diese Jobs durchaus attraktiv sein. Die Akademiker und Bildungsbürger vergessen, dass die meisten Menschen Arbeit nicht als Selbsterfahrung und Selbstdarstellung begreifen, sondern um Geld zu verdienen, damit sie den Sinn ihres Lebens in der Familie, mit Freunden, in Sport oder Hobbys finden können.

Viele gehen nur in die Uni, weil es der automatische Übergangsritus ist, der Stempel für den zukünftigen Arbeitgeber.

WELT: Wie kann man die Schieflage der Gesellschaft angehen? Könnten es Akademikereltern sein, die sich freuen, dass ihr Kind eine Lehre macht? Das wäre eine andere soziale Mobilität als immer die „nach oben“.

Berufslehre Gebäudetechnik: Lieber zuerst einmal arbeiten

Goodhart: Meine eigenen vier Kinder haben alle studiert. Wären sie heute 16 oder 17 Jahre alt, würde ich ihnen eher raten, Arbeitserfahrung zu sammeln und vielleicht ein kleines Business zu gründen. Sie könnten Programmieren lernen und dann in einem digitalen Unternehmen anständig verdienen. Später könnten sie, wenn sie wirklich intellektuell neugierig sind, auch noch mit Ende 20 oder Anfang 30 studieren, vielleicht sogar neben der Arbeit. Die Universität kann eine stimulierende und befreiende Erfahrung sein. Aber viele gehen nur dorthin, weil es der automatische Übergangsritus ist, der Stempel für den zukünftigen Arbeitgeber.

WELT: Wo ist die soziale, emotionale Intelligenz, die Sie immer wieder reklamieren für eine bessere Zukunft?

Goodhart: Die Anerkennung des Herzens geschieht doch schon durch die Feminisierung der Gesellschaft. Physische Stärke und Stoizismus werden immer funktionsloser. Emotionale Intelligenz und „soft skills“ sind wichtig im Management und in einer wachsenden Zahl von Jobs, auch weil die Pflegewirtschaft ein immer bedeutenderer Teil der nationalen Ökonomien wird. Diese Sphäre wird für ambitionierte und kluge junge Menschen cooler sein, als zur langweiligen Universität zu gehen.

WELT: Die westlichen Gesellschaften haben drei industrielle Revolutionen überstanden und stehen jetzt vor der vierten. Wo liegen die Chancen von AI?

Goodhart: Wichtig ist doch, dass die Trennung von Kopf, Hand und Herz eine künstliche ist, denn fast alles, was wir tun in nahezu allen Berufssparten, ist eine Kombination aus den drei menschlichen Fähigkeiten. Vielleicht wird der Modelljob der Zukunft der einer Demenzkrankenschwester sein, die über signifikante Kenntnisse der Konturen der Krankheit und entsprechende Ausbildung verfügt, um das Leid der Patienten zu mildern. Mit einer Geduld, Selbstlosigkeit und emotionalen Intelligenz, die kognitives Können allein nicht aufbringt.

David Goodhart (64) ist ein britischer Journalist und Autor mehrerer Sachbücher. Er war Deutschland-Korrespondent der „Financial Times“ von 1988 bis 1991. Sein letztes Buch ist: „The Road to Somewhere. Die populistische Revolte und die Zukunft der Gesellschaft“ (2017). Gerade erschien bei Penguin „Kopf, Hand, Herz. Das neue Ringen um Status. Warum Handwerks- und Pflegeberufe mehr Gewicht brauchen“.

Dieses Interview erschien zuerst in der WELT (3.4.21) und wurde von Andrea Seibel geführt.

 

The post „Wir produzieren zu viele Akademiker für Jobs, die es nicht mehr gibt“ first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2021/04/wir-produzieren-zu-viele-akademiker-fuer-jobs-die-es-nicht-mehr-gibt/feed/ 2