gescheiterte Schulreformen - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Mon, 18 Jan 2021 14:54:10 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png gescheiterte Schulreformen - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Freie Schulwahl – Schönheit einer Fata Morgana https://condorcet.ch/2021/01/freie-schulwahl-schoenheit-einer-fata-morgana/ https://condorcet.ch/2021/01/freie-schulwahl-schoenheit-einer-fata-morgana/#comments Mon, 18 Jan 2021 14:54:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=7503

Man hört zwar im Moment nicht viel von den Befürwortern der "Freien Schulwahl". Im Hintergrund aber verfolgen sie ihr Anliegen weiter und sind daran, einen zusätzlichen Anlauf zu wagen, erklärt uns Condorcet-Auto Felix Hoffmann. Warum ihre Chancen diesmal gar nicht so schlecht stehen, begründet er im folgenden Beitrag. Nicht zufällig platzieren wir diesen Artikel unmittelbar nach Peter Aebersolds Porträt über unseren Namensgeber Condorcet, der die öffentliche Schule begründet hatte (https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen/).

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Scheintherapie für die öffentlichen Schule

Die freie Schulwahl ist verführerisch. Der damit geschaffene Wettbewerb zwischen den einzelnen Schulstandorten stellt eine elegante Lösung dar zur Unschädlichmachung des zerstörerischen Tsunamis an Schulreformen.

Aber auch die bildungsfeindliche Passepartout-Fremdsprachenideologie könnte sich keine Schule leisten, denn auch sie wäre ein eklatanter Standortnachteil gegenüber Schulen, an denen mit seriösen Lehrmitteln unterrichtet wird.

Die Ideologie der angestrebten totalen Integration beispielsweise liesse sich im Rahmen der Wettbewerbsorientierung nicht aufrechterhalten. Die daraus im Unterricht resultierende Nivellierung nach unten wäre ein erheblicher Standortnachteil. Eltern würden Schulstandorte wählen mit einem differenzierenden System, welches die Lernenden in unterschiedliche Klassentypen einteilt entsprechend individueller Begabung und Bedürfnisse. Aber auch die bildungsfeindliche Passepartout-Fremdsprachenideologie könnte sich keine Schule leisten, denn auch sie wäre ein eklatanter Standortnachteil gegenüber Schulen, an denen mit seriösen Lehrmitteln unterrichtet wird.

Der Wettbewerb würde die Standorte der öffentlichen Schule zwingen, der Flut schädlicher Reformen im Namen des Erfolgs auszuweichen.

 

Freie Schulwahl: Bisher chancenlos

 

Das Prinzip Hoffnung

Eine Schule ist nur erfolgreich, wenn sie fokussiert ihrer Kernaufgabe der Bildung nachgehen kann. Im sich permanent drehenden Reformkarussell hingegen vermag sie Qualitätsstandards schwerlich aufrechtzuerhalten. Lehrkräfte können kaum erfolgreich unterrichten und gleichzeitig ununterbrochen ihre Schule reformieren. An die Stelle der Qualität tritt dann nicht selten deren ständige Thematisierung. Der Wettbewerb würde die Standorte der öffentlichen Schule zwingen, der Flut schädlicher Reformen im Namen des Erfolgs auszuweichen. Damit würde sich auch der die Reformwucherung beschleunigende Wulst an Gremien, Ausschüssen, Kommissionen und dergleichen von selbst erledigen. Die so eingesparten Gelder könnten dann zugunsten der Lernenden eingesetzt werden. Aber auch der negative Einfluss unzähliger im Dienst an sich selbst stehender „Bildungsfunktionäre“, „Bildungsexperten“ und anderer Amateure würde elegant zurückgebunden. All dies wäre scheinbar möglich alleine kraft der heilenden Wirkung des Wettbewerbs.

Der Schein trügt

So einleuchtend dies erscheint, so utopisch ist es, die freie Schulwahl in der Praxis umzusetzen. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung: a) Die Kapazität eines jeden Schulstandorts ist begrenzt. Geht die elterliche Nachfrage darüber hinaus, wird entweder ausgelost, oder die Schulbehörde bestimmt, wer wo zugeteilt wird. Beides verstösst gegen die freie Schulwahl und das Gebot der Gleichbehandlung. b) Ein Schulstandort wird während Jahren gut geleitet. Um die begrenzte Kapazität der elterlichen Nachfrage anzupassen, wird die Infrastruktur schliesslich zulasten der Steuerzahler ausgebaut. Kurz darauf übernimmt eine mangels Erfahrung Reform gläubige Schulleitung das Ruder, wodurch wenige Jahre später der neue, 200 Schüler fassende Gebäudeteil wieder leer steht.

Die freie Schulwahl ist kein geeignetes Instrument für die öffentliche Schule mit ihrer gesellschaftlichen Klammerfunktion und ihrem Fokus Mensch.

Rehabilitierung des Lehrberufs

Wettbewerb ist die Grundlage für sich selbst regulierende Waren- und Dienstleistungsmärkte. Insofern braucht es ihn beispielsweise bei der Wahl von Schulbüchern und Reformvorhaben, um untaugliche Konzepte und damit Fehlinvestitionen von vornherein auszuschliessen. Er ist hingegen kein geeignetes Instrument für die öffentliche Schule mit ihrer gesellschaftlichen Klammerfunktion und ihrem Fokus Mensch. Die unheilvolle Allianz zwischen Politik, Administration und Fachhochschulen zur Ankurbelung der ertragreichen Reformindustrie muss anders zerschlagen werden. Der erste Schritt in diese Richtung ist die generelle Aufwertung des Lehrberufs, nachdem er die letzten Jahre wegen einer verfehlten Bildungspolitik massiv an Attraktivität einbüsste.

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Von gescheiterten Reformen und warum die Lehrkräfte verstummen https://condorcet.ch/2020/12/von-gescheiterten-reformen-und-warum-die-lehrkraefte-verstummen/ https://condorcet.ch/2020/12/von-gescheiterten-reformen-und-warum-die-lehrkraefte-verstummen/#comments Wed, 09 Dec 2020 05:07:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=7153

Condorcet-Autorin Christine Staehelin antwortet auf Herrn Köhlis Aufruf, nicht mehr weiter zu analysieren, sondern zum Angriff überzugehen. Sie zeichnet ein bedrückendes Bild bildungsbürokratischer Übergriffe und gibt den Ball zurück.

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Christine Staehelin, Primarlehrerin in Basel: Unerschütterlicher Glaube, dass es dennoch möglich ist.

In seinem Blogbeitrag schreibt Hans-Peter Köhli: «Die Urheber von Lehrplan 21, Frühfremdsprachenkonzept, Totalintegration usw. lesen den Blog vielleicht auch, schmunzeln jedoch dabei und freuen sich, dass ihren Neuerungen allen Anfeindungen zum Trotz nichts passiert. Wann endlich wird einmal zum Angriff übergegangen?»

Wogegen soll der Angriff gerichtet sein?

Die Frage von Hanspeter Köhli ist durchaus verständlich. Warum geschieht dies nicht? Warum folgen auf Reformen, die sich nicht bewähren, neue Reformen, um die Reformen zu reformieren? Weil, so schreibt Niklas Luhmann, «das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung des Bedarfs für weitere Reformen ist»[1], wobei das auch dadurch zu begründen sei, dass rasch vergessen werde, «dass das, was man vorhat, schon einmal (oder mehrmals) versucht worden und gescheitert ist»[2].

Reichenbach vermutet einen Grund der Zunahme bei gleichzeitiger Erfolglosigkeit von Reformen darin, dass es »zu spät zum Aufhören« sei, denn «je länger man einen schlechten Film anschaut, desto wahrscheinlicher wird es, dass man ihn bis zum Ende sieht«[3]. Er spricht in diesem Zusammenhang auch von der «Concordefalle», die dieses Vorgehen symbolisiert.

Prof. Roland Reichenbach: Zu spät zum Aufhören.

Man könnte also einerseits davon ausgehen, dass die Reformen gemäss einer ihnen eigentümlichen Dynamik der Selbstreproduktion und des ständigen Vergessens einem ständigen Werden und Vergehen unterworfen sind, welches nicht unterbrochen werden kann, weil es als Kreislauf funktioniert.

Doch scheint andererseits die Gelassenheit oder die Einsicht zu fehlen, dies als ausreichende Begründung zu akzeptieren, da somit ja ein Zweck ausserhalb der Dynamik selbst nicht vorhanden wäre. Es müsste zweckloses Handeln unterstellt werden im Sinne von Hauptsache, es wird etwas getan. Dafür sind die Reformen jedoch zu kostspielig, nicht nur aus finanzieller Sicht.

«Das Neue als Reiz kommt ohne Fortschritt aus».Roland Reichenbach

Vielleicht ist es so, wie Reichenbach[4] schreibt: «Das Neue als Reiz kommt ohne Fortschritt aus». Dieser Reiz wäre dann also gleichzeitig Mittel und Zweck von Reformen im Bildungsbereich. Somit müsste die Sinnfrage auch nicht mehr gestellt werden und das Verstehen erschöpfte sich in dieser Aussage, was letztlich jedoch auch keine befriedigende Antwort sein kann.

Warum können pädagogische Einwände die Reformen nicht aufhalten? – Antwort: Es geht gar nicht um Pädagogik oder Bildung.

Schon wieder eine Analyse, wird Hans-Peter Köhli nun einwenden – zu Recht. Und dann noch eine unbefriedigende, wenn allein Zirkelschlüsse, Demenz sowie Erkenntnisse aus der Aviatik und dem Behaviorismus die Bildungsreformen begründen sollen. Vielleicht ist die Analyse dennoch angemessen. Sie könnte nämlich erklären, warum pädagogische Einwände die Reformen nicht aufhalten können – es geht gar nicht um Pädagogik oder Bildung. Worauf also soll folglich ein Angriff überhaupt abzielen?

Das Verschwinden des professionellen Lehrerhandelns

Neben den oben erwähnten Begründungen für die hohe Kaskade von scheiternden Reformen gibt es möglicherweise eine Unzahl weiterer. Als Hypothese möchte ich hier eine hervorheben: Das Verschwinden des Lehrberufs als Profession, wie sie Luhmann beschreibt[5], und damit jener Autorität, die in diesem Berufsfeld in erster Linie überhaupt etwas zu sagen hätte.

Entscheidend für Professionen ist, dass das bestmögliche Wissen «nicht direkt, logisch, problemlos angewandt werden kann, sondern jede Anwendung mit dem Risiko des Scheiterns belastet ist. Das gilt für die Prototypen der Diskussion, für Ärzte und Juristen, aber, wie leicht zu sehen, auch für Pädagogen. Im Zentrum für Professionen steht mithin die Distanz zwischen Idee und Praxis, die durch Wissen allein nicht überbrückt werden kann»[6].

Die Lehrkraft braucht nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut

Jede Lehrerin, jeder Lehrer ist sich dessen bewusst. Alle wissen, dass auch mit hohem Engagement und bester Absicht sich Lernerfolg nicht immer einstellt, dass auch Wissen, Erfahrung und Routinen nicht vor dem Scheitern schützen. Es braucht «Gelassenheit, mit der der Lehrer Erfolg und Misserfolg erträgt. Der Lehrer braucht nicht nur Mut, sondern auch Gleichmut»[7].

Die Distanz zwischen Idee und Praxis ist ein Wesensmerkmal von Erziehung und Bildung.

Die Distanz zwischen Idee und Praxis ist ein Wesensmerkmal von Erziehung und Bildung. Überbrückt wird dieser Gap durch die Person der Lehrenden. Denn sobald «die Interaktion Unterricht beginnt, sind Lehrer wie Schüler deren Dynamik ausgeliefert […]. Die Organisation zieht sich gleichsam zurück und überlässt der Interaktion die Führung»[8]. Weiter schreibt Luhmann: «Die Berufspraxis soll weitgehend autonom durchgeführt werden unter Absehen von kleinlichen Festlegungen des Verhaltens»[9].

Eigentümliche Dynamik der Selbstreproduktion

Warum sind diese Ausführungen in diesem Zusammenhang bedeutsam? Weil Reformen sich immer auf Fragen der Organisation beziehen. Doch es wird ihnen «kaum gelingen, die Unterrichtsinteraktionen zu perturbieren»[10]. Der unerschütterliche Glaube von Entscheidungsträgern ­– die in der Bildungsverwaltung, nicht (mehr) im Klassenzimmer arbeiten –, dass es dennoch möglich sei, über Neubeschreibungen der Organisation das Unterrichtsgeschehen bzw. den Lernerfolg zu beeinflussen, führt zu immer weitergehenden Reformen. Damit sollen deren Erfolglosigkeit und unerwünschten (Neben-)wirkungen kaschiert werden. In erster Linie aber bedrängen die ständigen Reformen die professionellen Handlungsmöglichkeiten von Lehrerinnen und Lehrern und damit das eigentliche Unterrichtsgeschehen durch den zunehmenden Bürokratismus bei gleichzeitig abnehmender Interaktionsfreiheit von Lehrerinnen und Lehrern immer ernsthafter, bedrohen gar deren Handlungsspielraum und damit ihren Status als Profession. Die weiteren Ausführungen zeigen auf, was geschieht, wenn die Organisation versucht, das Unterrichtsgeschehen direkt zu beeinflussen, sei es durch entsprechende Lehrpläne bzw. Lehrmittel, sei es durch ideologisch geprägte Ausbildungsgänge u.a.

Bürokratismus als Folge von Kontrollverlust

Weder führt ein neuer Lehrplan dazu, dass die Schülerinnen und Schüler mehr lernen, noch verbessert ein Lehrmittel bzw. ein früher einsetzender Unterricht die Französischkenntnisse, noch bewirkt  die Integration, dass alle integriert sind, noch ergibt selbstorganisiertes Lernen mehr Lernfreude und -erfolg, noch schafft die Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen eine neue Generationen von begeisterten Lehrerinnen und Lehrer, noch wird die so genannte Digitalisierung die jungen Menschen auf die wichtigen Herausforderungen der Zukunft vorbereiten.

Passepartout, ein gigantisches Scheitern

Im Gegenteil: Der Lehrplan ist voll von fragwürdigen so genannten Kompetenzen («können erste Erfahrungen mit den drei Hauptwortarten Nomen, Verb und Adjektiv sammeln», «können zeigen, wie sie zählen»), die mehr verwirren als klären; der erfolglose frühe Französischunterricht mit dem umstrittenen Lehrmittel «mille feuilles» ist zum Politikum geworden;  die Integration hat dazu geführt, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler einen Förderbedarf ausweisen und ein geregelter und effizienter Unterricht manchmal gar nicht mehr möglich ist;  das selbstorganisierte Lernen verkennt einerseits, dass man immer selber lernt, und stiehlt andererseits dem Unterricht, der immer eine personale Angelegenheit ist, die Seele; die Neuausrichtung der Ausbildung der Lehrpersonen führt dazu, dass fünf Jahre nach dem Berufseinstieg mehr als die Hälfte der Ausgebildeten nicht mehr unterrichtet und die Digitalisierung des Unterrichtsgeschehens löst das Generationenverhältnis auf, untergräbt die Autoriät der Lehrpersonen und verzichtet auf deren Leidenschaft für die Welt und für das Lehren, setzt Medium und Inhalt gleich und spiegelt die Tatsache vor, dass heute schon klar wäre, was morgen von Bedeutung sei und dass das irgendetwas mit Bildschirm und Tasten zu tun haben müsse.

Da das Scheitern der Reformen im Bildungsbereich immer offensichtlicher und vielfältiger wird und die gesellschaftliche Anerkennung der öffentlichen Schule ins Wanken gerät, nimmt der Bürokratismus zu und raubt der Schule den Atem, möglicherweise in bester Absicht.

Bürokratismus raubt der Schule den Atem

Und was tun die Bildungsverwaltungen angesichts dieser unkontrollierten (Neben-)Wirkungen von Reformen? Sie treffen ständig neue Entscheidungen  und reagieren damit auf die uneingestandene Unmöglichkeit, mittels ständiger Neubeschreibungen der Organisationen «die Operationen, auf die es letztlich ankommt, nämlich Unterricht und Forschung, zu kontrollieren, geschweige denn verbessern zu können»[11]. Da das Scheitern der Reformen im Bildungsbereich immer offensichtlicher und vielfältiger wird und die gesellschaftliche Anerkennung der öffentlichen Schule ins Wanken gerät, nimmt der Bürokratismus zu und raubt der Schule den Atem, möglicherweise in bester Absicht.

Wann endlich wird einmal zum Angriff übergegangen?

Viele Lehrerinnen und Lehrer verstummen.

Die Ausführungen sollen aufzeigen, dass es nicht so einfach ist, zum Angriff überzugehen. Neben vielen weiteren möglichen Ansätzen stehen m.E. drei Probleme im Vordergrund: Erstens scheinen Reformen grundsätzlich weitere Reformen zu bewirken, zweitens möchten die Reformen über Neubeschreibungen von Organisationsformen die Interaktionen im Unterrichtsgeschehen beeinflussen, was a priori nicht möglich ist. Und drittens sind viele Lehrerinnen und Lehrer verstummt, weil sie das Scheitern von Unterrichtsinteraktion, das heute zu einem grossen Teil auf völlig unangemessenes und in das tägliche Unterrichtshandeln hineinspielende Organisationshandeln zurückzuführen ist, als persönliches Versagen sehen.

Die Deprofessionalisierung des Lehrberufs geht linear einher mit den Reformen der letzten Jahrzehnte. Alle wissen es besser als die Lehrerinnen und Lehrer.

Die Schule hat grundsätzlich drei gesellschaftliche Aufgaben zu erfüllen: Sie muss qualifizieren, selektionieren und integrieren.
Die Organisation muss jene Voraussetzungen schaffen, damit diese Aufgaben einerseits strukturell und inhaltlich gestaltet und andererseits im Rahmen von Interaktionen im Unterricht überhaupt stattfinden kann. Der Beruf der Lehrerin bzw. des Lehrers muss als Profession im Luhmannschen Sinn anerkannt sein. Dazu gehört in allererster Linie eine hochstehende und dem Beruf angemessene Ausbildung, eine weitgehend autonome Berufspraxis und ausserdem muss der Lehrberuf «hinreichende Vorteile an Reputation und an Einkünften bieten, um für gute Kandidaten attraktiv zu sein»[12].

Also haben die Lehrerinnen und Lehrer zugelassen, dass die Verwaltung ihren Beruf zunehmend kontrolliert und bürokratisiert hat und dass über die Organisation versucht wird, Bereiche des Unterrichts zu beschreiben und in die Interaktion hineinzuwirken.

Wer soll den Angriff starten?

Die Deprofessionalisierung des Lehrberufs geht linear einher mit den Reformen der letzten Jahrzehnte. Alle wissen es besser als die Lehrerinnen und Lehrer. Wenn letztere die Reformen inhaltlich und mit pädagogischen Argumenten kritisiert haben, wurden sie zu Ewiggestrigen gestempelt. Doch wer will schon als altmodisch gelten? Wer kann schon gegen Integration und Digitalisierung sein? Also haben die Lehrerinnen und Lehrer zugelassen, dass die Verwaltung ihren Beruf zunehmend kontrolliert und bürokratisiert hat und dass über die Organisation versucht wird, Bereiche des Unterrichts zu beschreiben und in die Interaktion hineinzuwirken. Diese Reformen waren insofern erfolgreich, als dass der Berufsalltag von Lehrerinnen und Lehrern zunehmend geprägt ist von Organisation und Bürokratismus; aber auch von Ohnmachtsgefühlen, weil mit Lehrmitteln gearbeitet werden muss, die ineffektiv sind, weil sich die Klassenzusammensetzung aufgrund der vielen separativen Förderangeboten innerhalb eines Morgens mehrmals ändert usw. Und letztlich vor allem auch, weil ihnen nicht zugehört wird. Lehrerinnen und Lehrer werden keinen Angriff starten, denn wenn einem Beruf der Status der Profession nicht zugeschrieben wird, hat man nichts zu sagen.

Sie, lieber Herr Köhli

Lieber Herr Köhli, nehmen Sie Einfluss über die Politik, legen Sie den Irrtum offen zu glauben, man könne über die Organisation in die Interaktion des Unterrichts hineinwirken. Damit raubt man dem Lehrberuf das Wesentliche, nämlich jene Autonomie im Handeln, die es einem erlaubt, mit Begeisterung und Leidenschaft Wissen weiterzugeben, neue Perspektiven zu eröffnen und dies tagtäglich und über Jahre und Jahrzehnte tun zu wollen, obwohl man manchmal scheitert, weil einem die nächste Generation am Herzen liegt.

Und weil man für den Lehrberuf die Besten auswählen sollte, braucht es Aufnahmeprüfungen mit berufsspezifischen strengen Aufnahmekriterien.

Wir brauchen die besten im Lehrberuf

Und setzen Sie sich politisch dafür ein, dass die Pädagogischen Hochschulen eine hervorragende Berufsausbildung anbieten, welcher je nach Ausbildungsziel ein universitäres Fachstudium vorausgeht. Den Lehrberuf studiert man nicht. Sonst kann man am Ende der Ausbildung zwar eine wissenschaftliche Arbeit schreiben, aber unterrichten, das kann man nicht. Und weil man für den Lehrberuf die Besten auswählen sollte, braucht es Aufnahmeprüfungen mit berufsspezifischen strengen Aufnahmekriterien.

Wenn Sie es schaffen, dass sich die Organisationsbeschreibungen von Bildungsverwaltungen auf jene Bereiche beschränken, die überhaupt etwas mit Organisation zu tun haben, und wenn es Ihnen gelingt, die Ausbildungen an den Pädagogischen Hochschulen auf ein Höchstniveau zu bringen und berufsspezifisch auszurichten bei einer gleichzeitigen Beschränkung der Aufnahmen, ich glaube, dann haben Sie viel erreicht.

Und nicht zuletzt ist es von enormer Bedeutung, dass jene die Organisationsbeschreibungen vornehmen, die dem Berufsstand der Lehrerinnen und Lehrer angehören: Sie wissen, welche Lehrmittel wirksam sind, wo die Grenzen der so genannt integrativen Schule liegen, wie ein Lehrplan, der diesen Namen verdient, aussehen soll und ganz grundsätzlich, welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit erfolgreicher Unterricht stattfinden kann.

Es ist höchste Zeit für den Angriff, Herr Köhli. Und er muss auf dem politischen Weg geschehen. Nicht weil ich der Meinung wäre, das wäre der richtige Weg. Aber es ist der einzige, weil man den Lehrerinnen und Lehrern seit Langem nicht mehr zuhört.

Christine Staehelin, Basel

 

[1] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (166).

[2] ebd., 167

[3] Reichenbach, R. (2008). In der »Concorde-Falle«: Erfolgreiches Scheitern von Bildungsreformen (eine »Replik« auf Walter Herzogs Kritik an der Reform). In: Schweizerische Zeitschrift für Bildungswissenschaften 30 (2008) 1, S. 53-63.

[4] Reichenbach, R. (2020). Bildungsferne. Zürich. Diaphanes (141).

[5] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (147ff.).

[6] Luhmann, N. (2002). Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Berlin: Suhrkamp (148).

[7]  ebd. 152

[8] ebd. 160f.

[9] ebd. 150

[10] ebd. 166

[11] ebd. 163

[12] ebd. 150

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Wer schweigt, schadet der Volksschule https://condorcet.ch/2019/11/wer-schweigt-schadet-der-volksschule/ https://condorcet.ch/2019/11/wer-schweigt-schadet-der-volksschule/#comments Sat, 16 Nov 2019 12:55:57 +0000 https://condorcet.ch/?p=2875

Der pensionierte Sekundarlehrer und Condorcet-Autor Hanspeter Amstutz hat den Text von Carl Bossard (Wer trägt die Verantwortung, 3. November) gelesen und sich dabei seine Gedanken über fehlenden Mut und grassierenden Konformismus gemacht.

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Hanspeter Amstutz
Bild: Fabü

Zu recht kritisiert Carl Bossard die wilde Phase des didaktischen Experimentierens der letzten Jahre. Fremdsprachen-Lehrmittel mit völlig neuen Lernkonzepten wurden ohne eigentliche Erprobungsphase eingeführt. Begleitet war die Umstellung durch verlockende Versprechungen vom schnellen Lernerfolg. Schon in der Primarschule würden dank der neuen Methoden die Kinder munter parlieren und einfache Texte bestens verstehen. Lehrerinnen und Lehrer wurden in Weiterbildungskurse geschickt, um die Kinder künftig im intensiven Sprachbad fördern zu können.

Den Eltern wurde das Blaue vom Himmel versprochen

Doch das reichte noch nicht. Da die Frage des frühen Lernens zweier Fremdsprachen zu einem Politikum geworden war, wurden auch den Eltern das Blaue vom Himmel herunter versprochen. Die meisten Bildungspolitiker liessen sich noch so gerne blenden und setzten ganz auf die Karte des vermeintlichen Fortschritts. Wer es als Lehrer in dieser Situation wagte, die ehrgeizigen Bildungsziele zu hinterfragen, musste mit böser Kritik rechnen.

Und nun das: Die jüngsten Studien zeigen, wie miserabel es um die Französischkenntnisse steht. Nur wenige Primarschüler sind überhaupt imstand, am Ende der Mittelstufe eine einfache Konversation in der zweiten Fremdsprache zu führen. Doch das schwache Abschneiden umfasst nicht nur den Fremdsprachenbereich. Auch die Grundkenntnisse vieler Schüler in der Mathematik, wo ebenfalls neue didaktische Wege beschritten wurden, sind ungenügend. Dies hat die lange zurückgehaltene nationale Erhebung zur Ermittlung der mathematischen Kompetenzen in der Volksschule mit überraschender Deutlichkeit gezeigt.

Einer offenen Diskussion über die eingeschlagenen Reformen stellen sich nur wenige.

Eigentlich hätten die alarmierenden Resultate ein bildungspolitisches Erdbeben auslösen müssen. Zweifellos waren manche Wissenschafter über die Ergebnisse erschrocken, denn sie hatten wirklich mehr erhofft. Doch einer offenen Diskussion über die eingeschlagenen Reformen stellten sich nur wenige. Noch peinlicher war das Verhalten führender Bildungspolitiker. Sie versuchten, die Ergebnisse zuerst totzuschweigen und später schönzureden. Die einzigen, die in grosser Zahl jetzt auf die Barrikaden stiegen, waren Lehrpersonen. Viele waren erbost, dass man ihre begründeten Bedenken stets als fehlenden Reformwillen interpretiert hatte.

Wider den Tunnelblick bei der Konzeption von Schulreformen

Unsere Volksschule braucht dringend eine offenere Reformkultur. Das beginnt schon in der Konzeptionsphase grosser Neuerungen. Diese dürfen nicht mit einem Tunnelblick auf ein einzelnes Fach oder auf eine Spitzengruppe von Begabten konzipiert werden. Mögliche Nebenwirkungen müssen bedacht und in Erprobungen sorgfältig abgeklärt werden. Dabei gilt es, den anspruchsvollen Dialog zwischen Wissenschaftern und Schulpraktikern wirklich auf Augenhöhe zu führen. Manche Fehlentwicklung könnte so vermieden werden.

Die Dauerbaustellen sind bekannt

Ist es unverschämt zu fordern, dass gemachte Fehler endlich korrigiert und nicht länger verschwiegen werden? Immer mehr Millionen von Franken in Projekte zu stecken, die nicht vom Fleck kommen und nachweislich grossen Schaden hinterlassen, entspricht nicht einem rationalen politischen Handeln. Die Dauerbaustellen sind bestens bekannt, sie reichen von falschen Sprachkonzepten bis zum zermürbenden Einsatz der Heilpädagoginnen beim integrativen Schulmodell.

Die Lehrkräfte dürfen nicht länger schweigen.

Doch auch die Lehrerschaft ist gefordert und muss aus der Deckung der brav Ausführenden herauskommen. Aufgrund der Erfahrungen mit gescheiterten Schönwetter-Konzepten und zunehmenden bürokratischen Abläufen ist jede Lehrperson berechtigt, die Praxistauglichkeit von Neuerungen ins Zentrum der Überlegungen zu stellen. Duckmäusertum ist total fehl am Platz, wenn Konzepte sich als unbrauchbar erweisen. Auch die Lehrerverbände sind in der Pflicht, nicht länger zu schweigen. Wie Carl Bossard schreibt, geht es ja nicht um Waren, die Schaden nehmen, sondern um Kinder. Die Zeit ist reif, um die bequeme Gewohnheit des mutlosen Schweigens zu durchbrechen.

Hanspeter Amstutz

 

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