freie Schulwahl - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 04 Sep 2022 14:00:28 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png freie Schulwahl - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Warum kann die “Reformindustrie” nicht ihre Fehler einräumen? https://condorcet.ch/2022/09/warum-kann-die-reformindustrie-nicht-ihre-fehler-einraeumen/ https://condorcet.ch/2022/09/warum-kann-die-reformindustrie-nicht-ihre-fehler-einraeumen/#comments Sun, 04 Sep 2022 09:31:08 +0000 https://condorcet.ch/?p=11400

Endlich wieder einmal ein Beitrag aus dem Diane-Ravitch-Blog. Peter Greene, ein amerikanischer Volksschullehrer und Autor im Diane Ravitch-Blog ist im Condorcet-Blog kein Unbekannter. In diesem Beitrag macht er sich Gedanken über Michael Petrillis Überlegungen zur Entwicklung der "Reform"-Bewegung. Pikant: Michael Petrillis ist eigentlich ein Linker und wollte nur Gutes. Er war ein Vorreiter der Standardisierung und untestützte die Testbatterien, die bis heute in den US-amerikanischen Schulen ihr Unwesen treiben. Peter Greene wirft Petrilli vor, dass er nicht fähig sei, die vielen Fehlentwicklungen einzugestehen, für die er auch eine Verantwortung trägt. Eine Beobachtung, die wir durchaus auch in der Schweiz und Deutschland machen können.

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Peter Greene, Lehrer, Autor des Diane Ravitch-Blog: Bemerkenswerte Einsichten, aber nicht konsequent.

Mike Petrilli, Mitglied des reformorientierten Thomas Fordham Institute, hat in einem gerade veröffentlichten Beitrag den aktuellen Stand der Bildungsreform analysiert  (anscheinend sind viele von uns gerade in dieser Stimmung), und es lohnt sich, zu erfahen, was der Mann, der eine grosse Adresse eines jeden Bildungsreporters ist,  über den Zustand der «Reformbewegund» denkt.

In “The Evolving Education Reform Agenda” beginnt Petrilli mit seinem früheren Argument, dass der “Washington Consensus”1 zwar tot ist, die Bildungsreform selbst aber nicht. Dies weist auf eine der Herausforderungen hin, mit denen die Bildungsreformen heutzutage konfrontiert sind, nämlich dass niemand mehr wirklich weiß, was der Begriff «Bildungsreform» eigentlich bedeutet, was heute die Ziele der ökonomistischen Erneuerung unseres Bildungssystems sind. Petrilli versucht, uns dies zu  erklären.

Michael Petrilli, Bildungsreformer und Präsident des Thomas B. Fordham Institut: Die Agenda hat sich verschoben.

Er  argumentiert, dass sich die Agenda verschoben habe (eine höfliche Umschreibung für “wir verschieben ständig die Zielpfosten”), und zwar von der Konzentration auf Daten und das Erreichen von guten Ergebnissen bei staatlichen Tests (etwa im Rahmen von NCLB) bis hin zu dem Versuch, einzelne Lehrer in die Verantwortung zu nehmen, eine Absicht, zu der sich Petrilli ziemlich offen bekennt:

In den frühen 2010er Jahren ging es vor allem darum, einzelne Lehrer durch testgestützte Lehrerbewertungen zur Verantwortung zu ziehen. Die unbeholfene Umsetzung und die giftige Politik haben dazu geführt, dass wir diese fehlgeleitete Reform hinter uns gelassen haben.

Dies ist natürlich eine «Pontius-Pilatus_Aussage, die unterschlägt, dass zahlreiche Lehrpersonen in vielen Bundesstaaten noch immer die schwerwiegenden Auswirkungen dieser Politik spüren. Eines der ärgerlichsten Merkmale der Bildungsreformen ist jedoch, dass sie sich nie um sich selbst kümmern; sie verwenden nie so viel Energie darauf, ihre Fehler ungeschehen zu machen, wie darauf, sie überhaupt erst zu machen. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der diese cleveren Panzerknacker zum Telefon greifen, ihre Kunden anrufen und sie beschwören: “Hören Sie, diese Sache, zu der wir Sie überredet haben, ist gescheitert, brecht die Übung ab.” Stellen Sie sich vor, Bill Gates würde das gleiche Geld in die Beseitigung seiner politischen Fehler stecken, das er in die Förderung dieser Fehler investiert.

Wie dem auch sei, Petrilli listet einige andere neue politische Schwerpunkte auf, wie z. B. Die Entwicklung und Bereitstellung hochwertigen Unterrichtsmaterials. Und er stellt treffend fest, dass die neue Unterstützung für eine bessere Schulfinanzierung zusammenfällt mit der Erkenntnis der Reformer, dass vor allem die bessere Finanzierung der Schulen, also Direktinvestitionen, die Ergebnisse der Schüler verbessert.

Wahlfreiheit der Eltern? Er beklagt nun plötzlich, dass immer noch Steuergelder immer noch zur Finanzierung privater und religiöser Schulen fliessen, auch an solche Institutionen, die diskriminieren. Auf diese Erkenntnis  hat man lange warten müssen

Die Reformer um Petrilli  glauben immer noch an den Wert des großen standardisierten Tests, ein Punkt, in dem sie entschieden und absolut falsch liegen.

Tests und Transparenz? Die Reformer um Petrilli  glauben immer noch an den Wert des großen standardisierten Tests, ein Punkt, in dem sie entschieden und absolut falsch liegen, obwohl sie neuerdings scheinbar auch an alternativen Bewertungen interessiert sind – aber das hängt immer noch mit der Besessenheit an Testergebnissen zusammen. Petrilli schreibt: “Wie würden sich die Bewertungen unterscheiden? Wenn Schulen bei “alternativen Maßnahmen” gut abschneiden, aber nicht bei den herkömmlichen Testergebnissen, was dann? Sollten wir solche Schulen überhaupt als “gut” einstufen?” Ich kann dir helfen, Mike – die Antwort ist “Ja”.

Dies ist ein implizites Eingeständnis, dass all die praxisfremden politischen Interventionen der letzten Jahre gescheitert sind.

Petrilli ist der Meinung, dass der neue Schwerpunkt der Reform darin bestehen müsse, von der Politik zu verlangen, endlich die Stimmen aus der Praxis zu hören. Dies ist ein implizites Eingeständnis, dass all die praxisfremden politischen Interventionen der letzten Jahre gescheitert sind. Weder Charters, noch Gutscheine, noch die Bewertung von Lehrern waren erfolgreich. Deshalb ist es jetzt an der Zeit, dass die Reformer realistischer und praxisnaher werden. Aber wie können sie das tun, wenn so wenige Reformer jemals Lehrer waren?

Es ist ein altes Dilemma, dass die Reformer eigentlich mit guten Absichten dabei sind, die Ziele der Neoliberalen, der Rechten und der Privatisierer zu verwirklichen.

Homo insipiens von Erdmann.

Die Reformer wie Petrilli wiesen in der Vergangenheit immer mit Stolz daraufhin, dass ihre Ferne vom Unterricht, gepaart mit ihrer wissenschaftlichen Kompetenz, sie viel mehr dazu prädestiniere, den Lehrkräften unseres Landes zu erklären, wie Unterricht gehen muss. Sie haben angesichts der desaströsen Resultate jegliche Glaubwürdigkeit verloren.

Es ist ein altes Dilemma, dass die Reformer eigentlich mit guten Absichten dabei sind, die Ziele der Neoliberalen, der Rechten und der Privatisierer zu verwirklichen.

Die gute Nachricht in Petrillis Artikel ist immerhin, dass der “Washingtoner Konsens” tot ist. Die Demokraten – mit einigen bemerkenswerten Ausnahmen wie Cory Booker und Michael Bennett aus Colorado – unterstützen die Angriffe auf die öffentlichen Schulen und die Lehrkräfte nicht mehr, sie entfernen sich langsam von der Idee der Charter Schools und lehnen Bildungsgutscheine entschieden ab.

Da sind zumindest kleine Hoffnungsschimmer.

Peter Greene

1 Der Washington-Konsens oder Konsens von Washington (englisch Washington Consensus) ist ein Wirtschaftsprogramm, das lange Zeit vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank propagiert und gefördert wurde. Es enthält ein Bündel wirtschaftspolitischer Maßnahmen, die Regierungen zur Förderung von wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum durchführen sollten und als Handlungsanweisungen angesehen werden. Und es verlangte auch mehr Wettbewerb in der Bildung.

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Freie Schulwahl – Schönheit einer Fata Morgana https://condorcet.ch/2021/01/freie-schulwahl-schoenheit-einer-fata-morgana/ https://condorcet.ch/2021/01/freie-schulwahl-schoenheit-einer-fata-morgana/#comments Mon, 18 Jan 2021 14:54:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=7503

Man hört zwar im Moment nicht viel von den Befürwortern der "Freien Schulwahl". Im Hintergrund aber verfolgen sie ihr Anliegen weiter und sind daran, einen zusätzlichen Anlauf zu wagen, erklärt uns Condorcet-Auto Felix Hoffmann. Warum ihre Chancen diesmal gar nicht so schlecht stehen, begründet er im folgenden Beitrag. Nicht zufällig platzieren wir diesen Artikel unmittelbar nach Peter Aebersolds Porträt über unseren Namensgeber Condorcet, der die öffentliche Schule begründet hatte (https://condorcet.ch/2021/01/condorcet-ein-revolutionaerer-paukenschlag-fuer-das-bildungswesen/).

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Scheintherapie für die öffentlichen Schule

Die freie Schulwahl ist verführerisch. Der damit geschaffene Wettbewerb zwischen den einzelnen Schulstandorten stellt eine elegante Lösung dar zur Unschädlichmachung des zerstörerischen Tsunamis an Schulreformen.

Aber auch die bildungsfeindliche Passepartout-Fremdsprachenideologie könnte sich keine Schule leisten, denn auch sie wäre ein eklatanter Standortnachteil gegenüber Schulen, an denen mit seriösen Lehrmitteln unterrichtet wird.

Die Ideologie der angestrebten totalen Integration beispielsweise liesse sich im Rahmen der Wettbewerbsorientierung nicht aufrechterhalten. Die daraus im Unterricht resultierende Nivellierung nach unten wäre ein erheblicher Standortnachteil. Eltern würden Schulstandorte wählen mit einem differenzierenden System, welches die Lernenden in unterschiedliche Klassentypen einteilt entsprechend individueller Begabung und Bedürfnisse. Aber auch die bildungsfeindliche Passepartout-Fremdsprachenideologie könnte sich keine Schule leisten, denn auch sie wäre ein eklatanter Standortnachteil gegenüber Schulen, an denen mit seriösen Lehrmitteln unterrichtet wird.

Der Wettbewerb würde die Standorte der öffentlichen Schule zwingen, der Flut schädlicher Reformen im Namen des Erfolgs auszuweichen.

 

Freie Schulwahl: Bisher chancenlos

 

Das Prinzip Hoffnung

Eine Schule ist nur erfolgreich, wenn sie fokussiert ihrer Kernaufgabe der Bildung nachgehen kann. Im sich permanent drehenden Reformkarussell hingegen vermag sie Qualitätsstandards schwerlich aufrechtzuerhalten. Lehrkräfte können kaum erfolgreich unterrichten und gleichzeitig ununterbrochen ihre Schule reformieren. An die Stelle der Qualität tritt dann nicht selten deren ständige Thematisierung. Der Wettbewerb würde die Standorte der öffentlichen Schule zwingen, der Flut schädlicher Reformen im Namen des Erfolgs auszuweichen. Damit würde sich auch der die Reformwucherung beschleunigende Wulst an Gremien, Ausschüssen, Kommissionen und dergleichen von selbst erledigen. Die so eingesparten Gelder könnten dann zugunsten der Lernenden eingesetzt werden. Aber auch der negative Einfluss unzähliger im Dienst an sich selbst stehender „Bildungsfunktionäre“, „Bildungsexperten“ und anderer Amateure würde elegant zurückgebunden. All dies wäre scheinbar möglich alleine kraft der heilenden Wirkung des Wettbewerbs.

Der Schein trügt

So einleuchtend dies erscheint, so utopisch ist es, die freie Schulwahl in der Praxis umzusetzen. Zwei Beispiele zur Verdeutlichung: a) Die Kapazität eines jeden Schulstandorts ist begrenzt. Geht die elterliche Nachfrage darüber hinaus, wird entweder ausgelost, oder die Schulbehörde bestimmt, wer wo zugeteilt wird. Beides verstösst gegen die freie Schulwahl und das Gebot der Gleichbehandlung. b) Ein Schulstandort wird während Jahren gut geleitet. Um die begrenzte Kapazität der elterlichen Nachfrage anzupassen, wird die Infrastruktur schliesslich zulasten der Steuerzahler ausgebaut. Kurz darauf übernimmt eine mangels Erfahrung Reform gläubige Schulleitung das Ruder, wodurch wenige Jahre später der neue, 200 Schüler fassende Gebäudeteil wieder leer steht.

Die freie Schulwahl ist kein geeignetes Instrument für die öffentliche Schule mit ihrer gesellschaftlichen Klammerfunktion und ihrem Fokus Mensch.

Rehabilitierung des Lehrberufs

Wettbewerb ist die Grundlage für sich selbst regulierende Waren- und Dienstleistungsmärkte. Insofern braucht es ihn beispielsweise bei der Wahl von Schulbüchern und Reformvorhaben, um untaugliche Konzepte und damit Fehlinvestitionen von vornherein auszuschliessen. Er ist hingegen kein geeignetes Instrument für die öffentliche Schule mit ihrer gesellschaftlichen Klammerfunktion und ihrem Fokus Mensch. Die unheilvolle Allianz zwischen Politik, Administration und Fachhochschulen zur Ankurbelung der ertragreichen Reformindustrie muss anders zerschlagen werden. Der erste Schritt in diese Richtung ist die generelle Aufwertung des Lehrberufs, nachdem er die letzten Jahre wegen einer verfehlten Bildungspolitik massiv an Attraktivität einbüsste.

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