Diskriminierung - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Thu, 02 Mar 2023 06:20:06 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Diskriminierung - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Wider die Nanny-Pädagogik https://condorcet.ch/2023/03/wider-die-nanny-paedagogik/ https://condorcet.ch/2023/03/wider-die-nanny-paedagogik/#comments Thu, 02 Mar 2023 06:20:06 +0000 https://condorcet.ch/?p=13241

Zur geistigen Reife gehören der Drang nach Erkenntnis und das Interesse am anderen Standpunkt. Doch die Unterrichtskultur, die der Rationalität verpflichtet ist, gerät unter Druck. Identitätsdenken und Moralpolitik sind auch in der Schule auf dem Vormarsch, wie Gastautor Rainer Werner schreibt.

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Als ich im Politikunterricht an der gymnasialen Oberstufe erwähnte, dass das reichste Zehntel der Bevölkerung mehr als 50 Prozent der Einkommensteuer trägt, meldete sich ein Schüler und stritt dieses Faktum strikt ab. Ich verwies auf das Statistische Bundesamt und das Finanzministerium, denen ich diese Information verdankte. Der Schüler hielt diese Fakten für Lügen, die verschleiern sollen, dass die Reichen bei uns keine Steuern zahlen. Wenn man in einem Teil unserer Presse ständig zu lesen bekommt, die Reichen rechneten sich zur Steuervermeidung mit Hilfe von Steueranwälten künstlich arm, muss man sich nicht wundern, wenn junge Menschen, denen die soziale Gerechtigkeit am Herzen liegt, selbst amtliche Verlautbarungen anzweifeln.

Gastautor Rainer Werner, Lehrer

Beim Thema „Arbeitslosengeld II“ (Hartz IV) erlebte ich Ähnliches. Die meisten Schüler kannten nur den monatlichen Regelsatz von 446 Euro, den sie für ein auskömmliches Leben für unzureichend halten mussten. Als ich ihnen erzählte, dass die Arbeitsagentur zusätzlich die Warmmiete übernimmt, erntete ich ungläubiges Staunen. In Zeiten, wo Familien in Ballungszentren bis zu 40 Prozent ihres Nettoeinkommens für die Miete ausgeben müssen, ist die Übernahme der Miete für Bedürftige keine Kleinigkeit. „Armut durch Gesetz“, wie eine linke Partei „Hartz IV“ plakativ bezeichnet, sieht anders aus.

Flüchtling wird zum Geflüchteten

An diesen Beispielen kann man ablesen, dass Fakten immer mehr in Konkurrenz zu Meinungen geraten, die in der Öffentlichkeit von Parteien, Medien und sozialen Netzwerken oft in sehr zugespitzter Form lanciert werden. Natürlich sollen sich Jugendliche auch selbst eine politische Meinung bilden. Es ist auch völlig legitim, wenn sie diese entschieden vertreten. Gefährlich wird es dann, wenn sie rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich sind, wenn sie Fakten anzweifeln und wissenschaftliche Befunde als „Propaganda“ abtun.

Im Deutschunterricht einer 11. Klasse besprachen wir journalistische Texte zum Thema Migration. Eine Schülerin meldete sich und forderte ihre Mitschüler auf, Flüchtlinge künftig nur noch Geflüchtete zu nennen. Das Wort Flüchtling habe eine negative Konnotation. Die Endung -ling komme vornehmlich in Wörtern vor, die bei den Menschen negative Assoziationen wecken: Fiesling, Feigling, Schwächling. Einige Schüler widersprachen und zählten Wörter mit -ling auf, die positiv besetzt sind: Liebling, Schmetterling, Säugling.

Politisch motivierte Sprachlenkung

Als Deutschlehrer fühlte ich mich bemüßigt, den Schülern den Unterschied zwischen dem Gattungsbegriff Flüchtling und dem aus dem Partizip Perfekt abgeleiteten Substantiv Geflüchteter zu erklären. Das Partizip Perfekt „geflüchtet“ verwendet man im Deutschen, um eine situativ bedingte, temporäre Ortsveränderung zu bezeichnen. Ein junges Mädchen kann seiner Mutter erzählen: „In der Disco war es so heiß, dass ich schon nach einer Stunde ins Freie geflüchtet bin.“ Damit ist sie eine Geflüchtete, aber kein Flüchtling. Ein Flüchtling ist ein Mensch, der durch Krieg, Verfolgung, Hunger, Naturkatastrophen oder Epidemien gezwungen ist, seine Heimat dauerhaft zu verlassen. Der existentielle Zwang und die oft lebenslange Vertreibung aus der Heimat fehlen bei dem „Geflüchteten“ völlig.

“Flüchtling” oder “Geflüchtete”?

Die politisch motivierte Sprachlenkung beim Wort Flüchtling ist ein schönes Beispiel dafür, wie eine gute Absicht mitunter das Gegenteil bewirkt: Die Vokabel „Geflüchtete“ führt zu einer Verharmlosung und Banalisierung eines Tatbestandes, der für die betroffenen Menschen so schlimm ist, dass sich eine Verniedlichung verbietet. Kein vernünftiger und human denkender Mensch würde bei den Juden, die vor dem Holocaust aus Deutschland geflohen sind, von „Geflüchteten“ sprechen. Und wenn er es täte, würde er sich aus dem seriösen Diskurs verabschieden. Die Mehrzahl der Schüler in diesem Kurs reagierte auf meine Ausführungen betroffen. Die Aktivistin, die in der Flüchtlingshilfe arbeitete, konnte ich nicht überzeugen.

Klimamissionierung im Unterricht

Unterricht zu klimapolitischen Fragen ist inzwischen vermintes Gelände. Die Aktivisten von Fridays for Future sind zu einer einflussreichen Jugendbewegung aufgestiegen, die von Wissenschaft, Politik und Medien viel Unterstützung erfährt. Auf den Unterricht wirkt sich ihr missionarisches Auftreten nicht immer positiv aus.

“Fürs Klima legen sich junge Leute mit einer quasi-religiösen Haltung ins Zeug.”

Rainer Werner, Gastautor und Lehrer

 

In einem Politikkurs kritisierte ein kluger Schüler die Strategien der Bundesregierung zur Eindämmung der CO2-Emissionen. Er verwies darauf, dass Deutschland nur für 2 Prozent der weltweiten Emissionen dieses Treibhausgases verantwortlich sei. Umgerechnet auf den Anstieg der Weltjahrestemperatur betrage der deutsche Anteil 0,04 Grad Celsius. Er warnte davor, für diesen kleinen Klimabeitrag den Industriestandort aufs Spiel zu setzen. Er plädierte für Augenmaß und für technische Hilfen für die Hauptverursacher des Temperaturanstiegs, China und Indien. Der Schüler wurde von klimabewegten Mitschülern attackiert, als habe er etwas Obszönes geäußert. Fürs Klima legen sich junge Leute mit einer quasi-religiösen Haltung ins Zeug. Sie fordern die strengsten Maßnahmen, als wollten sie für sündiges Verhalten Buße tun. In dieser Unterrichtsstunde war es schwer, der Vernunft eine Bresche zu schlagen.

Schüler attackieren wie in der Politik

In meinem Oberstufenkurs zum Thema „Strategien gegen die Erderwärmung“ hielt eine Schülerin ein Referat zu der Frage, inwieweit die Zunahme der Sonnenflecken an der Erderwärmung beteiligt ist. Mir war bewusst, dass dieser Ansatz innerhalb der Klimawissenschaft nur eine Außenseitermeinung darstellt. In der Schule geht es aber darum, sich mit allen wissenschaftlichen Ansätzen auseinanderzusetzen, sie zu prüfen und gegebenenfalls zu verwerfen. Das schult das Denken und verhindert vorschnelle, einseitige Festlegungen. Umstrittene Ansätze von vornherein aus dem Diskurs zu verbannen, ist in der Schule keine vernünftige Option.

Einige Klimaaktivisten im Kurs regten sich über das Referat so sehr auf, dass sie der Referentin ständig ins Wort fielen. Dabei fielen Worte wie „Klimaleugnerin“ oder „Kohletante“. Die angriffslustigen Schüler haben offensichtlich von der Politik gelernt. Dort ist es inzwischen üblich, dass nicht das Argument widerlegt, sondern die Person, die es äußert, moralisch gebrandmarkt wird.

“Der zwanglose Zwang zum besseren Argument gehört zu den wichtigsten zivilisatorischen Leistungen.”

Bernd Stegmann, Regisseur und Autor

 

Der Regisseur und Autor Bernd Stegemann hat in einem Beitrag für die Zeit treffend formuliert, was auf dem Spiel steht: „Der zwanglose Zwang zum besseren Argument gehört zu den wichtigsten zivilisatorischen Leistungen der deutschen Nachkriegsgesellschaft.“ Wir müssen aufpassen, dass an unseren Schulen nicht die Ausgrenzung unliebsamer Inhalte und die Etikettierung missliebiger Personen die rationale Auseinandersetzung mit Fakten und Meinungen verdrängt.

Giffeys Regenbogenportal

Manchmal werden Probleme auch von außen in die Schule hineingetragen, die es dort vorher gar nicht gab. 2019 schaltete die damalige Bundesfamilienministerin Franziska Giffey das „Regenbogenportal“ frei, das dazu beitragen soll, „sexuelle Vielfalt in der Schule anzuerkennen und zu unterstützen“. In dem Portal wird mit den Vokabeln der sexuellen Identitätspolitik nur so um sich geworfen: „bisexuell, nicht-binär, queer, LSBTIQ-Empowerment, Trans- und Intergeschlechtlichkeit“ und so weiter.

Ich bin in meiner Lehrertätigkeit nie auf das Problem gestoßen, dass ein Junge oder Mädchen damit gehadert hätte, dass die eigene geschlechtliche Identität nicht respektiert würde. Die heutige Schülergeneration ist viel weiter, als es die Ex-Ministerin in ihrem „Regenbogenportal“ suggeriert. Dass es unterschiedliche Lebensweisen mit diversen sexuellen Identitäten gibt, halten Schüler heute für selbstverständlich. Bei Belehrungen durch Erwachsene reagieren sie deshalb eher gelangweilt.

Politiker mit Missionsdrang

An einem Berliner Gymnasium habe ich erlebt, dass sich ein Zehntklässler (nach Absprache mit mir) in seiner Klasse als homosexuell geoutet hat. Er bat seine Klassenkameraden darum, ihn genauso zu behandeln, wie sie ihn vorher behandelt hatten. Er bekam spontanen Beifall. Im nächsten Schuljahr wurde er zum Klassensprecher gewählt. Ich habe auch erlebt, dass ein Mädchen im Unterricht erzählt hat, dass es gerade eine Hormontherapie mache, um herauszufinden, was ihr wahres Geschlecht sei. Auch das wurde mit viel Anteilnahme und Solidarität aufgenommen.

Politiker mit Missionsdrang unterschätzen den Reifegrad von Schülern. Nanny-Pädagogik mögen diese überhaupt nicht. An der Identitätsdebatte stört mich der Fokus auf das Sexuelle. Sollte dies nicht Privatsache sein? Wäre hier nicht mehr Diskretion angebracht? Mir hat sich noch nie erschlossen, warum für die geschlechtsidentitären Aktivisten das stille Örtchen so wichtig ist wie für Katholiken der Tabernakel. Ist das nicht ein wenig peinlich?

“Politiker mit Missionsdrang unterschätzen den Reifegrad von Schülern.”

Rainer Werner, Gastautor und Lehrer

 

Statt von Geschlechtsidentitäten rede ich in der Schule konsequent von Intelligenz, Auffassungsgabe, Kreativität, Anstrengungsbereitschaft und Ehrgeiz – natürlich auch von Empathie und Solidarität. Das sind die Bausteine, aus denen sich schulischer Erfolg und berufliche Karrieren bauen lassen.

Mutter oder Elternteil 1

Für Lehrer hatte Franziska Giffeys „Regenbogenportal“ besonders aparte Ratschläge parat. Sie sollen eine „diskriminierungsfreie Lernatmosphäre“ erzeugen, indem sie zum Beispiel „Poster aufhängen, die Vielfalt sichtbar machen“ oder „Bücher mit lesbischen, schwulen und bisexuellen Charakteren für die Schulbibliothek anschaffen“. Wenn sie für Eltern Formulare ausfüllen, sollen sie auf geschlechtsneutrale Formulierungen achten und „nicht mehr ,Mutter‘ und ,Vater‘ schreiben, sondern nur noch ,Elternteil 1‘ und ,Elternteil 2‘“. Die Ex-Ministerin hatte offensichtlich kein Gefühl dafür, dass eine solche Bürokratensprache das Menschliche in der Pädagogik beschädigt.

Wie würde ich die begeisterte junge Mutter von Orkan aus der 7 c verletzen, wenn ich sie als Elternteil 1 titulierte! Wie würde ich den stolzen Vater von Alma aus der 8 a kränken, wenn ich ihn als Elternteil 2 anspräche.

Vernunftgeleitetes Denken verteidigen

Die Gesellschaft wirkt immer in die Schule hinein. Gesellschaftliche Trends aufzunehmen, bedeutet jedoch nicht, ihnen im Unterricht unbesehen freie Entfaltung zu ermöglichen. Sie müssen im Kontext des Bildungs- und Erziehungsauftrags der Schule behandelt werden. Dazu gehört der Auftrag, die Schüler zu selbstbestimmten und rational denkenden jungen Menschen zu bilden.

Zur Selbstbestimmung gehört die Lust auf Dialog und Debatte. Zur geistigen Reife gehören der Drang nach Erkenntnis und das Interesse am anderen Standpunkt. Im Deutschunterricht habe ich mich stets um eine rationale Debattenkultur bemüht, die alle Meinungen zu Wort kommen lässt. Ich habe Texte besprochen, die den Schülern die Augen darüber öffneten, wohin Fanatismus und Verfeindungsdenken führen.

Gesinnungsüberschuss der Gymnasiasten

Zu meinen Lieblingslektüren im Literaturunterricht gehörten „Michael Kohlhaas“ von Heinrich von Kleist und „Die Räuber“ von Friedrich Schiller. Beide Texte eignen sich vorzüglich, mit idealistisch geprägten Heranwachsenden über die Selbstermächtigung des Individuums zu diskutieren. In den Abiturkursen hatte ich heftige Debatten mit Hausbesetzern, Greenpeace-Aktivisten, Waldhüttenbewohnern und Linksautonomen zu bestehen und habe es als Erfolg verbucht, wenn sie schließlich einsahen, dass das Gewaltmonopol des Staates eine zivilisierende Wirkung entfaltet, weil es das Recht des Stärkeren einhegt. Den Einsturz des „ganzen Baus der sittlichen Welt“ (Karl Moor) wollten die rebellischen Gymnasiasten bei allem Gesinnungsüberschuss dann doch nicht riskieren.

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Braucht es den Nachteilsausgleich für Legastheniker? https://condorcet.ch/2020/03/braucht-es-den-nachteilsausgleich-fuer-legastheniker/ https://condorcet.ch/2020/03/braucht-es-den-nachteilsausgleich-fuer-legastheniker/#comments Sun, 29 Mar 2020 16:02:25 +0000 https://condorcet.ch/?p=4458

Condorcet-Autor Felix Schmutz spricht in diesem Artikel ein heisses Eisen an. Der Nachteilsausgleich wird heute von immer mehr Eltern für ihre Kinder beansprucht. Doch bringt er wirklich das, was er verspricht? Felix Schmutz hat da seine Zweifel.

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Felix Schmutz, Baselland

Hilfsmassnahme für Benachteiligte

Vor etwa einem Jahrzehnt hielt der so genannte Nachteilsausgleich Einzug in die Volksschulen. Auf Kinder mit Lese-Rechtschreibe-Schwäche (LRS) sollte besser Rücksicht genommen werden. Lehrpersonen waren gehalten, ihnen in Prüfungen Erleichterungen und alternative Testverfahren anzubieten, damit ihre Chancen trotz des Handicaps gewahrt blieben.

Nur Inhalt wird beurteilt – keine Rechtschreibung

So erhalten sie seither zum Beispiel mehr Zeit zum Lösen der Aufgaben oder sie dürfen Textbeiträge mit dem Computer schreiben anstatt von Hand und erst noch ein Rechtschreibprogramm zur Fehlerkorrektur nutzen. In Aufsätzen wird nur der Inhalt beurteilt, nicht aber die Rechtschreibung; Vorlesen dürfen sie in einem Nebenraum anstatt vor der ganzen Klasse, usw.

Qualvolle Misserfolgserlebnisse

Was ist genau ein Nachteil?

Dass schulisches Lernen für Kinder mit LRS eine grosse Herausforderung ist, wird heute niemand mehr bestreiten. Wenn grundlegende Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen unüberwindliche Schwierigkeiten bieten, ist das ganze schulische und berufliche Lernen geprägt durch qualvolle Misserfolgserlebnisse. Lebenschancen verstreichen ungenutzt, manchmal resultiert aus der LRS ein funktioneller Analphabetismus im Erwachsenenalter.

Dennoch darf die Frage gestellt werden: Hilft diesen Kindern und Jugendlichen der Nachteilsausgleich (NA) in der Schule und später vielleicht sogar in der Lehre? Ist der NA tatsächlich ein taugliches Mittel zur Verbesserung der Chancengleichheit bei LRS-Betroffenen?

Die WHO schaltet sich ein

Die Einführung des NA hängt eng damit zusammen, dass die Weltgesundheitsorganisation die Lese-Rechtschreib-Schwäche in ihren ICD-Katalog der Krankheiten und Störungen aufgenommen hat. Allerdings wird LRS nicht als Krankheit aufgeführt, sie erscheint im Abschnitt «Psychische und Verhaltensstörungen», und zwar im Unterkapitel «Umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten»[1].

Die alleinige Tatsache, dass diese Entwicklungsstörung im ICD-Katalog erscheint, hat sie in den Augen der auf Integration und Chancengleichheit eingeschworenen Bildungsfachleute zur «Krankheit» oder zur «Behinderung» aufgewertet. Das ist jedoch eine Umdeutung, es ist die etwas fragwürdige Pathologisierung eines Phänomens, das bis anhin verharmlosend mit dem Etikett «Übungsdefizite» versehen worden war. [2]

Die ICD-Klassifizierung unterscheidet die LRS-Störungen deutlich von tatsächlichen Behinderungen und Krankheiten wie Schwerhörigkeit, Mutismus, Aphasie, ADHS, usw. Sie charakterisiert LRS als behandelbare Entwicklungsstörung oder Entwicklungsverzögerung, bei der die auditiven und visuellen Sprachsignale im Gehirn nicht erwartungsgemäss verarbeitet werden. Sie unterscheidet LRS auch von Verarbeitungsproblemen infolge kognitiver Minderleistungsfähigkeit. Kognitive Einschränkungen können zu ähnlichen Symptomen führen wie LRS. Um LRS zu diagnostizieren, braucht man eine aufwändige Testbatterie, die es erlaubt, LRS von Gebrechen oder Intelligenzschwäche abzugrenzen und die Art der Verarbeitungsstörungen genau zu definieren. Eine solche Diagnostik ist wohl nur unter klinischen Bedingungen möglich.

Die Frage der Gerechtigkeit

Diskalkulie oder Faulheit?

Wenn bei einem Kind eine LRS von der Schulpsychologie bescheinigt wird, muss die Schule den Nachteilsausgleich gewähren. In der Praxis ist das jedoch nicht so einfach, wie sich das in den oben genannten Beispielen anhört. Wenn plötzlich formale Aspekte wie sprachliche Korrektheit, Textverständnis, Zeitdruck, Wortschatzkenntnisse, handschriftliches Formulieren durch alternative Verfahren erleichtert werden, entsteht eine Ungerechtigkeit den Kindern gegenüber, die diese Angebote nicht erhalten. Die genannten Leistungen beruhen für alle Kinder, auch für diejenigen ohne LRS, auf Fähigkeiten und Fertigkeiten, die ihnen nicht angeboren sind, sondern die sie durch Übung und etwelche Mühe erwerben müssen.

Zuordnungskompetenz und Zugriffskompetenz sind nicht das Gleiche

Wer einem Lernenden, der sich wegen LRS Französischwörter nicht einprägen kann, erlaubt, die Wörter in einer Multiple Choice Aufgabe anzukreuzen, anstatt sie auswendig erinnern und einem Bild mündlich oder schriftlich ohne Vorlage zuordnen zu müssen, stellt diesem nicht mehr dieselbe Aufgabe wie dem Kind ohne LRS. Man erleichtert ihm die Aufgabe nicht nur, sondern prüft eine andere Kompetenz. Zuordnungskompetenz und Zugriffskompetenz sind nicht dasselbe. Die Aufgaben sind somit nicht gleichwertig, verlangen nicht eine gleichwertige Leistung. Die Frage der Gerechtigkeit stellt sich auch deshalb, weil Kindern mit unterdurchschnittlichen kognitiven Fähigkeiten ein Nachteilsausgleich nicht zu Teil werden darf.

Das berufliche und private Leben oder auch der Sport kennen keinen solchen Nachteilsausgleich.

Nutzen des Nachteilsausgleichs

Ein weiteres Problem: Das berufliche und private Leben oder auch der Sport kennen keinen solchen Nachteilsausgleich. Wenn die erwarteten Kompetenzen zwingend vorhanden sein müssen, um einen Beruf oder einen Sport ausüben zu können, muss eine Schwäche überwunden werden. Lernenden solche Kompetenzen zu erlassen, um sie durch eine Prüfung zu bringen, nützt ihnen demzufolge nichts. Denn sie werden an den nicht vorhandenen Kompetenzen in jedem Fall scheitern.

In der Praxis sendet er jedoch unerwünschte Signale aus: Ein Kind bekommt gleichsam amtlich bestätigt, dass es etwas nicht kann und deshalb auch nicht können muss.

Gedacht ist der Nachteilsausgleich als Kompensation einer Chancenungleichheit. In der Praxis sendet er jedoch unerwünschte Signale aus: Ein Kind bekommt gleichsam amtlich bestätigt, dass es etwas nicht kann und deshalb auch nicht können muss. Das wirkt sich oft so aus, dass Kinder und Jugendliche mit einem verbrieften Recht auf Nachteilsausgleich gar keine Anstrengungen mehr unternehmen, an ihren Schwächen zu arbeiten. Während andere sich mit Üben und Lernen herumplagen, ruhen sich gewisse LRS-Kinder aus, verzichten bald einmal aufs Erledigen von Hausaufgaben, aufs Üben oder aufs Wörterlernen. Es braucht dann sehr viel Überredungskunst, um sie doch noch zur Anstrengung zu motivieren.

Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Nachteilsausgleich: Erreicht er das Gegenteil dessen, was er beabsichtigt?

Schlimmer noch: Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken. Sie werden in eine Opferrolle gedrängt, von wohlmeinenden Eltern darin noch bestärkt, wenn diese intervenieren, weil sie das Gefühl haben, die Schule nähme nicht genügend Rücksicht. Das weckt mit der Zeit den Neid der andern in der Klasse, denen die Anstrengung nicht erspart bleibt. Häme, Ausgrenzung können leicht die Folge sein. Es gibt auch Eltern, die den Arzt oder Psychologen so lange bestürmen, bis ihr Sprössling einen NA zugesprochen bekommt, obwohl objektive klinische Kriterien dies nicht wirklich nahelegen würden.

Scheinlösung und Ausweg

Der Nachteilsausgleich ist vor allem eine Scheinlösung, weil sich die Schule, bzw. die Bildungsbehörden, dadurch die Kosten für eine genaue Diagnostik und eine effiziente Therapie sparen können. Wie der Neurologe Burkart Fischer aus Freiburg i.Br. ausführt, können die Schwächen mit einer gezielten Diagnostik genau dingfest gemacht und anschliessend gezielt individuell therapiert werden. Die Therapien, die er zum Blicktraining, zur Blicksteuerung, zur auditiven Wahrnehmung entwickelt hat, ermöglichen Kindern, die Schwächen, die sie an der Verarbeitung der Sprache hindern, signifikant zu verbessern, so dass sie mit nur noch geringen Abstrichen die schulischen Leistungen erbringen können, zu denen sie ohne LRS fähig wären.[3]

Nachteilsausgleich als Sparübung

Der NA ist eine Sparübung auf dem Buckel der LRS-Betroffenen. Vor der Einführung des NA gewährten ihnen die Behörden ein eng umgrenztes, einheitliches Kontingent an logopädischer Hilfe, ohne Rücksicht darauf, wie intensiv und wie lange ein Kind therapiert werden musste. Wenn das Kontingent in der Sekundarstufe I aufgebraucht war, hiess es: «Débrouillez-vous.»

Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Eine erfolgversprechende Therapie müsste früh beginnen.
Bild: AdobeStock

Mit dem NA ziehen sich die Behörden bequem aus der Affäre. Der Schwarze Peter wird einfach an die Schule weitergereicht. Ein Beitrag zur Chancengerechtigkeit ist dies jedoch nicht. Im Gegenteil: Die Hoffnung, Kindern mit Erleichterungen Diskriminierung zu ersparen, kann sozial genau das Gegenteil bewirken.

Eine erfolgversprechende Therapie müsste gleich bei der Einschulung beginnen und, wenn nötig, kontinuierlich weitergeführt werden, insbesondere, wenn mehrere Verarbeitungsschwächen zusammentreffen. Da die Kinder mit LRS per definitionem intelligent genug sind, können sie lernen, Strategien anzuwenden, mit denen sie ihre Schwierigkeiten einigermassen in den Griff bekommen können. Das Training müsste im Übrigen stets von speziell ausgebildeten Logopädinnen durchgeführt und den jeweiligen schulischen Anforderungen angepasst werden. Es wäre ein ehrlicherer Beitrag zur Verhinderung des funktionellen Analphabetismus als die Scheinlösung mit dem Nachteilsausgleich.

 

[1] https://www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-gm/kode-suche/htmlgm2019/block-f80-f89.htm

[2] Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts bezeichnete der Schulpsychologe Dr. F. Schniepper lediglich multiple Verarbeitungsstörungen als Legasthenie.

[3] Burkart Fischer, Hören – Sehen – Blicken – Zählen. Teilleistungen und ihre Störungen, Bern 2007.

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