Bildungbürokratie - Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Wed, 03 Jun 2020 18:38:27 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Bildungbürokratie - Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Berlins «härtester» Schulleiter darf weitermachen https://condorcet.ch/2020/06/berlins-haertester-schulleiter-darf-weitermachen/ https://condorcet.ch/2020/06/berlins-haertester-schulleiter-darf-weitermachen/#comments Wed, 03 Jun 2020 18:38:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=5229

Von einer spannenden Personalie berichtet uns Condorcet-Autor Alain Pichard. Es geht um einen «harten» Schulleiter, um eine in ihrer Wunschprosa gekränkten Bildungsbürokratie und um die alte Frage der Pädagogik: Wieviel Disziplin verträgt es?

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Alain Pichard. Lehrer Sekundarstufe 1, Orpund (BE): Die Bildungsbürokratie ist gekränkt.

Vor 15 Jahren war er berüchtigt für seine drakonischen Strafen, inzwischen bekannt für seinen Erfolg: Die von Michael Rudolph geleitete Friedrich-Bergius-Schule in Friedenau gehört zu den wenigen Berliner Sekundarschulen ohne gymnasiale Oberstufe, die ständig übernachgefragt sind (Tagesspiegel 20.5.20). Die LeserInnen unseres Blogs in der Schweiz werden sich nun fragen, was es mit dem Wort «übernachgefragt» auf sich hat.

Nun, in Berlin können Eltern die Schule, dazu gehören auch staatliche Schulen, in die sie ihre Kinder  schicken wollen, selbst auswählen. Es liegt natürlich auf der Hand, dass in diesem System sozial weniger belastete Schulen mehr Zulauf erhalten als die sogenannten Brennpunktschulen. Und von denen hat es in der deutschen Bundeshauptstadt bekanntlich nicht wenige.

Natürlich hat die Aufnahmekapazität auch bei den «besten» also «nachgefragten» Schulen ihre Grenzen. Irgendwann ist Schluss. Daher der Begrifft «übernachgefragt»!

Hervorragende Performance

Doch kommen wir zurück auf die Friedrich-Bergius-Schule im Berliner Stadtbezirk Friedenau. Ihr Erfolg ist messbar: nicht nur anhand der guten Schülerleistungen und der guten Eckdaten etwa in Bezug auf geringe Schwänzerzahlen und dem massiven Rückgang an Vandalismus und Gewalt, sondern vor allem anhand der hohen Nachfrage – nachdem er 2005 die Leitungsstelle übernommen hatte, waren die Bewerberzahlen sofort rapide von unter 40 auf mehr als 90 Schüler gestiegen. Längst gibt es ständig über 100 Bewerber: Zum elften Mal in Folge war die Schule auch jetzt wieder übernachgefragt. Mit anderen Worten: Michael Rudolph hat mit seiner Crew den Turnaround geschafft.

Die Schule hat so große Defizite, dass sie zu den rund sieben Prozent Problemschulen gehört, die Hilfe von außen bekommen müssen.

Miserabler Inspektionsbericht

Schulleiter Rudolph empfänt die Schülerinnen: An dieser Schule herrschen klare Regeln.

Wie alle Schulen in Berlin muss sich auch die Friedrich-Bergius-Schule einer regelmässigen Inspektion unterziehen. Vergangenes Jahr präsentierte das Inspektionsteam einen Bericht, der vor Negativbotschaften nur so wimmelte und mit dem entsprechenden Fazit endete: Der Sekundarschule wurde ein “erheblicher Entwicklungsbedarf” attestiert. Übersetzt heißt das: Die Schule hat so große Defizite, dass sie zu den rund sieben Prozent Problemschulen gehört, die Hilfe von außen bekommen müssen. Der Inspektionsbericht nannte im Fazit nur zwei Stärken: eine “hohe Identifikation der Lehrkräfte und Eltern mit den Zielen der Schule” sowie ein “von allen Beteiligten anerkanntes Schulleitungshandeln”.

Vernachlässigung des Schulprogramms, der Unterrichtsentwicklung und der Kompetenzorientierung.

Dann aber kommt es knüppeldick: Sechs Schwächen – unter “Entwicklungsbedarf” – werden aufgelistet, darunter die Vernachlässigung des Schulprogramms, der Unterrichtsentwicklung und der Kompetenzorientierung. Zudem verstoße der Schulleiter gegen rechtliche Vorgaben bei der Schulorganisation, etwa dadurch, dass Lehrer weniger Stunden als vorgeschrieben regulär unterrichten, um als feste Vertretungskräfte zur Verfügung zu stehen. Und er lasse zu wenig Partizipationsmöglichkeiten zu.

Konsternierte Eltern

Rundherum rieb man sich die Augen. Die Eltern waren konsterniert, die Lehrkräfte schüttelten den Kopf und der inzwischen im Pensionsalter stehende Schulleiter kommentierte den Bericht mit den galligen Worte: «Folgt man diesen Empfehlungen, könne man die Schule abschaffen.»

Das wiederum empfand die Berliner Schulbehörde als illoyal. „Die Meinungsfreiheit entbindet nicht von der Loyalität gegenüber dem Dienstherrn“, liess sich die Bildungsbehörde verlauten.

Als dann die Behörden den Wunsch von Rudolph, noch ein weiteres Jahr als Schulleiter über seine Pensionierung hinaus wirken zu dürfen, trotz des grassierenden Lehrermangels ablehnten, brach ein Sturm der Entrüstung los.

Ende gut, alles gut?

Als dann die Behörden den Wunsch von Rudolph, noch ein weiteres Jahr als Schulleiter über seine Pensionierung hinaus wirken zu dürfen, trotz des grassierenden Lehrermangels ablehnten, brach ein Sturm der Entrüstung los. Bis ins linke Lager hinein war man sich einig, dass es nicht sein könne, einen so erfolgreichen Schulleiter, der überdies auch noch die Pensionskasse mit seinem Entscheid entlastet, aus dem Amt zu entfernen.

Wie die Berliner Zeitung Tagesspiegel, nun berichtet, kam es kurz darauf zu einem Wechsel an der Spitze der Bildungsverwaltung: «Der Bildungsstaatssekretär Mark Rackles (SPD) räumte seinen Posten. Seine Nachfolgerin Beate Stoffers (SPD) entschied umgehend, Rudolph die Verlängerung einer Beschäftigung zu gestatten – und votierte nun offenbar dafür, ihn ein weiteres Jahr im Amt zu lassen.» (Tagesspiegel 20.5.20)

Ruth Wiederkehr, Schulleiterin, OSZ-Mett-Bözingen: Kein Chaos!
Kurt Neujahr, Schulleiter, OSZ-Mett-Bözingen: Behördliche Weisungen pragmatisch umsetzen.

Der Condorcet-Blog berichtete schon mehrfach über eigenwillige Schulen, welche sich den pädagogischen Modeströmungen von Schreibtischplanern widersetzt und stattdessen eine eigene pragmatische Agenda verfolgt haben. Die beiden Schulleiter Ruth Wiederkehr und Kurt Neujahr am OSZ-Mett-Bözingen in Biel («Hier spüren die Lehrer, dass sie gebraucht werden» https://condorcet.ch/2019/05/die-lehrkraefte-spueren-hier-werde-ich-gebraucht/) haben unter schwierigsten Bedingungen ebenso erfolgreich gewirkt wie die Brennpunktschule Michaela Community School aus dem unterprivilegierten, mehrheitlich von ethnischen Minderheiten bewohnten Londoner Stadtbezirk Brent. Dort war es die charismatische Schulleiterin Katharine Birbalsingh, welche den Behörden vorwarf: «Das heutige Schulsystem hält die Schüler arm» (https://condorcet.ch/2020/02/brennpunktschule-uebertrifft-alle/).

Katahrina Birbalsingh, Schulleiterin Michaela School, London: Die Bildungsforscher sollten auch von uns lernen.

Obwohl die pädagogischen Mittel und die konkreten Massnahmen in allen drei Schulen sehr unterschiedlich angewandt wurden, gab es dennoch fünf Gemeinsamkeiten:

  1. Alle drei Schulen gelten als Brennpunktschulen mit vielen sozial benachteiligten SchülerInnen.
  2. Alle drei Schulleitungen haben ihre eigenen Wege gesucht und sich nicht gescheut, auch bei den Behörden und Bildungswissenschaftlern anzuecken.
  3. Bei allen drei Schulleitungen gilt, es muss Ordnung herrschen, es darf kein Chaos geben, Unterricht muss stattfinden können, Disziplinlosigkeiten und Absentismus werden nicht geduldet.
  4. Die Lehrkräfte aller drei Schulen verlangen etwas von den SchülerInnen und unterrichten nach dem Prinzip: Eine Schule ist dann gut, wenn ihre Schüler etwas lernen.
  5. Alle drei Schulen haben bei den Eltern eine sehr hohe Akzeptanz.

Dagegen stehen hochstehende pädagogische Ziele, oftmals mit massiven Glaubenssätzen behaftet, die ausserhalb der Reichweite von Unterricht stehen. Wie sagte es einmal Frau Birbalsingh im Guardian: «Wir sind bereit, auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu hören und von den Bildungsexperten zu lernen. Ich erwarte aber auch von ihnen, dass sie von der Praxis lernen.»

Das denkt auch Michael Rudolph, den man vor einem Jahr in Wuppertal im Rahmen der «Time for Change»-Tagung treffen konnte. Er fühlte sich wohl unter den “Rebellen”.

Alain Pichard

 

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