Condorcet https://condorcet.ch Bildungsperspektiven Sun, 26 Nov 2023 15:25:55 +0000 de-DE hourly 1 https://condorcet.ch/wp-content/uploads/2019/05/favicon-100x100.png Condorcet https://condorcet.ch 32 32 Plädoyer für eine Renaissance der Schullektüre https://condorcet.ch/2023/11/plaedoyer-fuer-eine-renaissance-der-schullektuere/ https://condorcet.ch/2023/11/plaedoyer-fuer-eine-renaissance-der-schullektuere/#comments Sun, 26 Nov 2023 15:25:55 +0000 https://condorcet.ch/?p=15376

Condorcet-Autor Carl Bossard mahnt zur Rückkehr zu einem konzentrierten Lesen und fordert eine Renaissance der Lektüre.

The post Plädoyer für eine Renaissance der Schullektüre first appeared on Condorcet.

]]>

Wir wissen es schon lange, doch wir verdrängen es. Die NZZ am Sonntag machte es vor Kurzem wieder publik: Die Lesefreude nimmt bei den Jugendlichen ab – ebenso wie die Lesefähigkeit generell. Seit Jahren sinkt sie. Beim letzten PISA-Test, publiziert im Dezember 2019, lag die Schweiz beim Lesen auf Platz 27. Sie dümpelt damit unter dem Durchschnitt und klar hinter Nachbar Deutschland!

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Die Gruppe derer, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, wuchs auf 24 Prozent. Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann nach neun Schuljahren nicht richtig und verständig lesen, diagnostiziert die PISA-Studie. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht aber das Gelesene im Gesamtkontext nicht. Das ist besorgniserregend. Auch demokratiepolitisch. Lesen bleibt der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und unserer Demokratie.

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz nicht weniger junger Menschen liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, das intensive Lesen nimmt ab. Usanz ist heute das Lesen von WhatsApp-Nachtrichten und von flüchtig gescannten Kurztexten. Das gehört zum Leben junger Leute, ebenso Social-Media-Kanäle wie Tiktok. Der Lesemodus liegt im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Dabei können Alerts die Lektüre jederzeit unterbrechen.

Steigendes Unbehagen am Lesen

Dass vieles so leicht zu haben ist, zeitigt Folgen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler eine unvertraute Gegend. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerstarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung zur subjektiven Zumutung. So öffnen sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt. Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen – und sie darin trainieren. Die Freude am Lesen kommt mit dem Können. Es ist eine Überbrückungsarbeit zwischen den Schülerhorizonten und dem elementaren Bildungsauftrag der Schule. Dies nicht zuletzt im Interesse von Kindern, die aus sozial eher schwächeren Familien kommen und es schwerer haben. Hier liegt eine der ganz wichtigen Aufgaben der Schule. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.

Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für so manche Schülerinnen und Schüler heute zur Schwerstarbeit.

Nicht “mehr und Zusätzliches” wäre gefordert, sondern Kontrastives, eine Art Gegenhalten im Verhältnis der Schülerinnen und Schüler zu formaler Sprache und Diskursivität. Das bedeutet für Lehrpersonen einen spürbaren Zuwachs an Anstrengung, bleibt aber als Aufgabe und didaktische Pflicht. Dieser Auftrag braucht Zeit. Doch sie fehlt. An der Schule muss zu vieles gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch, die ganze Integration und anderes mehr. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, reduziert sich die Übungszeit. Lehrerinnen und Lehrer kommen deutlich weniger zum Üben. Aus der Gedächtnispsychologie wissen wir: Je stärker wir eine Grundfertigkeit im täglichen Leben brauchen, desto intensiver müssen wir sie trainieren. Das gilt auch für die grundlegende Kulturtechnik des Lesens.

Wachsende Aufgabenfülle reduziert die Übungszeit

Vertieftes und konzentriertes Lesen oder “deep reading”, wie es die Leseforschung nennt, muss geduldig gelehrt, intensiv und auch gemeinsam geübt und reflektiert werden. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien. Dazu schreibt Klaus Zierer, Erziehungswissenschaftler und Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg: “Wir brauchen eine Renaissance der Lektüre, eine Renaissance des Leseunterrichts, und zwar im Kern des Curriculums, mit Lektürestunden in jeder Schulart und in jedem Schulfach.” Es ist das alte Postulat: “Get the fundamentals right, the rest will follow.” Auf die guten Grundlagen kommt es an!

 

Carl Bossard

Ehemaliger Direktor Kantonsschule Luzern und Gründungsrektor Pädagogische Hochschule PH Zug

The post Plädoyer für eine Renaissance der Schullektüre first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/plaedoyer-fuer-eine-renaissance-der-schullektuere/feed/ 1
Viele Schulen kehren zurück zu Heft und Buch https://condorcet.ch/2023/11/viele-schulen-kehren-zurueck-zu-heft-und-buch/ https://condorcet.ch/2023/11/viele-schulen-kehren-zurueck-zu-heft-und-buch/#respond Sun, 26 Nov 2023 15:02:19 +0000 https://condorcet.ch/?p=15370

Die verschiedenen Studien der jüngsten Vergangenheit, welche sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Leseleistungen und Konzentrationsfähigkeit unserer Schülerinnen und Schüler beschäftigen, zeigen ihre Wirkung. Die schwedische Bildungsministerin will den ungehemmten Einsatz von Computern bremsen. Lesen Sie einen Bericht des deutschen Senders SWF.

The post Viele Schulen kehren zurück zu Heft und Buch first appeared on Condorcet.

]]>

Schwedische Kinder gehen mit wenig Gepäck in die Schule. Denn viele Unterrichtsmaterialien stehen im Netz, auch die Hausaufgaben. Kinder bekommen ihre iPads und Laptops von den Schulen gestellt. Doch inzwischen gibt es viel Kritik an der Digitalisierung. Forschende warnen: Die Lernkompetenz insgesamt gehe stark zurück. Schwedens Regierung will deshalb wieder mehr klassische Unterrichtsmaterialen in den Schulen sehen.

Die schwedische Bildungsministerin Lotta Edholm will die nationale Digitalisierungsstrategie nun bremsen. Zurück zu Buch und Heft heißt die Devise jetzt. Die Regierung will umgerechnet 60 Millionen Euro in diesem Jahr für Schulbücher zur Verfügung stellen, in den kommenden Jahren sind ähnlich hohe Summen eingeplant.

Wir wissen, dass Lesen am besten durch Bücher gefördert wird und dass wir ein großes Problem in schwedischen Schulen haben, mit zu vielen Bildschirmen und zu wenig Büchern.

Schulpraxis zeigt Vorteile und Nachteile

Zumindest teilweise Zustimmung kommt aus der Schulpraxis; eine Mathematik-Lehrerin einer Schule in Stockholm berichtet: “Es gibt eine ganze Reihe an Mathe-Apps, an Software, an digitalen Büchern, die ich aber nicht gut finde. Entweder raten die Kinder die Ergebnisse einfach, dann bekommt man viele Punkte, wenn man was richtig macht. Alles geht so schnell, die Kinder arbeiten nicht im eigenen Rhythmus.”

Schwedisch-Lehrerin Hannah Österberry betont: “Laptops sind keine Allheilmittel, aber hin und wieder haben sie echte Vorteile. Beim Schreiben können die Kinder ihre Texte redigieren, zurückgehen und sie verändern. Sie können sie richtig bearbeiten.” Ein Nachteil sei, dass viele weniger auf Groß- und Kleinschreibung oder die richtigen Satzzeichen achten.“

    Laptops sind keine Allheilmittel, aber hin und wieder haben sie echte Vorteile.

Hannah Österberry, Schwedisch-Lehrerin

 

Umstrittene Empfehlung des Karolinska-Instituts

Das haben Forschende des Karolinska Instituts in Stockholm genauer untersucht. Torkel Klingberg, Professor für kognitive Neurowissenschaften: “Je nachdem, wie intensiv Schulen Computer einsetzen, hat das Auswirkungen auf das Mathematik und Lesevermögen. Je mehr eine Schule ihren Unterricht auf Internet und Computer stützt, desto schlechter die Leistung der Kinder. Das sind richtig deutliche Effekte, die beinahe die Hälfte der Leistungsunterschiede zwischen Schulen erklären.”

Der Digitalisierungsexperte der schwedischen Schulbehörde sieht das etwas anders. Auch er stützt sich auf Forschung und zitiert Studien, die beweisen sollen, dass es am Ende auf eines ankäme: die Lehrkraft. Denn wenn die verstehe, wie und wann digitale Lehrmittel eingesetzt werden sollen, dann erreiche man die besten Ergebnisse.

The post Viele Schulen kehren zurück zu Heft und Buch first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/viele-schulen-kehren-zurueck-zu-heft-und-buch/feed/ 0
Tonio Schachingers Schul-und Gesellschaftsroman “Echtzeitalter”: “Eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation” https://condorcet.ch/2023/11/tonio-schachingers-schul-und-gesellschaftsroman-echtzeitalter-eine-unschuldige-und-dennoch-gnadenlose-simulation/ https://condorcet.ch/2023/11/tonio-schachingers-schul-und-gesellschaftsroman-echtzeitalter-eine-unschuldige-und-dennoch-gnadenlose-simulation/#respond Sun, 26 Nov 2023 14:43:02 +0000 https://condorcet.ch/?p=15362

Unschuldig ist sie nicht, diese Welt des Wiener Elitegymnasiums Marianum, in der sich der pubertierende Till Kokorda auf möglichst unauffällige Weise versucht durchzuwursteln. Eher gnadenlos. Und wenn es im schulischen Alltag mit dem sadistisch-elitären Klassenlehrer Dolinar nicht mehr auszuhalten ist, gibt es zum Glück noch die Unschuld der Echtzeit-Strategiespiele "Age of Empires 2", wo es Till bis in die globale Spielerelite schafft. Für dieses mit viel Spott und Einfühlsamkeit entworfene Sittengemälde, das unspektakulär traditionell erzählt wird, hat der 31-jährige österreichische Schriftsteller zu Recht den Deutschen Buchpreis 2023 erhalten.

The post Tonio Schachingers Schul-und Gesellschaftsroman “Echtzeitalter”: “Eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation” first appeared on Condorcet.

]]>

“Till geht am russischen Siegesdenkmal vorbei und entscheidet sich, einen Umweg über den Karlsplatz zu nehmen. Alles ist gut. Till ist glücklich. Er muss nie wieder in die Schule, nie wieder von Felis Seite weichen. Er weiss nicht, dass es keine Happy Ends gibt. Dass Menschen, die sich lieben, wie Punkte im Universum sind, so klein, dass sie eigentlich keine Fläche haben, so klein, dass man glaubt, sie wären einander nahe, obwohl zwischen ihnen Platz für unendlich viele weitere Punkte ist, zwei Punkte, die sich in Bewegung setzen, zur Linie werden, zu zwei Linien, wenn man hineinzoomt, zwei parallelen Linien, die sich im Verlauf der Zeit als nicht parallel erweisen, auseinanderdriften, mit jeder Veränderung des Winkels oder der Geschwindigkeit, mit jeder fremden Linie, die sie kreuzen, jeder Widrigkeit und jeder Chance.”

Georg Geiger, pensionierter Gymnasiallehrer, Basel-Stadt

Was für ein lebenskluges, weises Ende dieser Geschichte, deren letzter Satz aber nochmals klarmacht, dass es keine vorschnelle Versöhnung und keine Verklärung der Vergangenheit gibt, was die unsägliche Zeit im diesem ummauerten Elitegefängnis anbetrifft: “Spinnst du?, sagte Till. Es war die Hölle, du Idiot!”

Seltsamerweise wird sowohl in der Laudatio der Buchpreis-Verleihung wie auch in einigen Rezensionen (vgl. etwa Adam Suboczynski in der ZEIT vom 16.3.2023) der Eindruck erweckt, dass sich der Held wegen des Schul-Drills, den Problemen mit seiner Mutter und dem frühen Tod des Vaters in die Gamer-Welt flüchte, was aber in keiner Weise zutrifft. Beide Welten, die Schule wie das digitale Strategiespiel, nehmen ihre Legitimation aus den Regeln, die es zu befolgen gilt, will man unbeschadet oder vielleicht sogar mit Erfolg aus der Sache herauskommen, wie es Philipp Bovermann in der SZ vom 15.4.2023 klug referiert.

Der Autor entgeht der Gefahr, auf plumpe Weise die analoge Welt gegen die digitale auszuspielen. Lesen oder gamen?, das ist nicht die passende Frage, denn: “Entweder man liest gerne, oder man spielt gerne Games. So oder so verpasst man etwas.” (S.256) Und das Gamen eröffnet Till eine ganze berufliche Zukunft: “Und er sieht ein neues Licht am Horizont, die Hoffnung auf Tourniere, Sponsoren, eine Renaissance von AOE2, die ihm, genau zum richtigen Zeitpunkt, ermöglichen könnte, von dem zu leben, was er am liebsten macht, auch wenn das eher ein Gedanke für Tagträume ist als einer für die Berufsberatung.” (S.154)

“Mit Georg im Informatiksaal entdeckte er, dass das, was er sich immer gewünscht hatte, eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation, eine Möglichkeit, sich nicht nur heroisch zu fühlen, sondern es innerhalb einer ästhetisch stimmigen Fiktion von Krieg auch tatsächlich zu sein, längst existierte: als PC-Spiel, das im Jahr seiner Geburt erschienen war.”

Und wenn man als Leser oder Leserin über diese Welt, in der gemäss dem Anbieter “über 1000 Jahre Menschheitsgeschichte, 35 Zivilisationen und mehr als 200 Stunden Spielspass” steckten, genau so wenig weiss wie Tills Eltern, dann liefert der Roman interessante Hinweise, worin denn die ganze Faszination dieser Sache besteht: “Mit Georg im Informatiksaal entdeckte er, dass das, was er sich immer gewünscht hatte, eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation, eine Möglichkeit, sich nicht nur heroisch zu fühlen, sondern es innerhalb einer ästhetisch stimmigen Fiktion von Krieg auch tatsächlich zu sein, längst existierte: als PC-Spiel, das im Jahr seiner Geburt erschienen war.” (S.343)

Mit unserem Dünkel in den Senkel gestellt

Tills Eltern und wir alle, die wir bildungsbürgerlich geprägt natürlich der Literatur einen höheren Stellenwert beimessen als dem Echtzeit-Strategiespiel von Xbox Game Studio, werden auf sympathische und überzeugende Weise mit unserem Dünkel in den Senkel gestellt: “Sie sprechen über Computerspiele, wie jemand, der nicht lesen kann, über Bücher spricht, und ihre Sorgen unterscheiden sich kaum von den Sorgen derjenigen, die zur vorletzten Jahrhundertwende ins Kino gingen und fürchteten,  der Zug könne aus der Leinwand über sie hinwegrollen.” (S.37)

Wir Lehrer*innen werden noch viel direkter in eine Reihe mit den Gamern gestellt, was durchaus unironisch verstanden werden kann und soll: “Vielleicht besteht kein so grosser Unterschied darin, ob man Streamer ist oder Sportreporter oder Lehrer. Ob man Elbisch lernt oder Finnisch, ob man die Geschichte von Westeros studiert oder die von Westfriesland. Tristan spricht zu Menschen, die jünger sind als er, und versucht, ihnen etwas beizubringen. Tristan kennt sich nur mit seinem Beruf aus, mit Videocontent und Age of Empires 2, während er von allem anderen erstaunlich wenig weiss. Er eint ein Publikum, indem er als Projektionsfläche für ihren Spott herhält, er interveniert, wenn es ihm zu viel wird, mahnt einen freundlicheren Umgangston an und lässt einzelne Störefriede von seinen Mods sperren, damit das, was Age of Empires besonders macht, die relative Freundlichkeit der Community, erhalten bleibt.” (S.79)

Eine weiterer Dimension des Lebens

Es gibt dann aber im Roman-Geschehen schon noch einen Moment, wo Till seine Gamer-Welt gegen die Echtzeit zwischenmenschlicher Begegnung austauscht. Dann nämlich, als er sich in Feli verliebt. Und das Verliebtsein eröffnet Till neben der sinnlosen schulischen Quälerei und der Omnipotenz, vom Sofa aus mit AOE Weltgeschichte zu kreieren, noch eine weitere Dimension des Lebens: “Wenn man nach einer langen Zeit eine körperliche Grenze überschreitet und einen neuen Menschen kennenlernt”, und dabei ein völlig neues Zeitgefühl erlebt. Das ist dann das ultimative Gegenstück zur Kurzformel des Nihilismus, wie sie das Leben von Till in dieser achtjährigen Schulzeit gnadenlos bestimmt hat: “Es vergeht eine Woche voller Referate und Zwischentests, Haus- und Schulübungen, eine Woche, in der keine Rede davon sein kann, dass Till sein nächstes Wahlpflichtfach wartet, denn er wartet ja nicht, sondern ist mit all den Sachen beschäftigt, die sein Leben ausmachen und ihm gar nichts bedeuten.” (S.165)

 

Tonio Schachinger: Echtzeitalter. Roman. Hamburg 2023. Rowohlt Verlag

The post Tonio Schachingers Schul-und Gesellschaftsroman “Echtzeitalter”: “Eine unschuldige und dennoch gnadenlose Simulation” first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/tonio-schachingers-schul-und-gesellschaftsroman-echtzeitalter-eine-unschuldige-und-dennoch-gnadenlose-simulation/feed/ 0
Geschichte unter Druck https://condorcet.ch/2023/11/geschichte-unter-druck/ https://condorcet.ch/2023/11/geschichte-unter-druck/#respond Sun, 26 Nov 2023 13:59:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=15358

Condorcet-Autor Urs Kalberer war auch am Podium der St. Galler Kinderärzte zugegen, wo Professor Andreotti und Hanspeter Amstutz ihre Kritik am gegenwärtigen Geschichtsunterricht präsentierten.

The post Geschichte unter Druck first appeared on Condorcet.

]]>

Im Zusammenhang mit der Einführung des Lehrplans 21 wurde das bisher eigenständige Fach «Geschichte» mit dem bisher eigenständigen Fach «Geografie» fusioniert zum Fach «Räume, Zeiten, Gesellschaften» (RZG). Dazu wurde den beiden Fächern noch eine Wochenlektion gekappt. Das heisst, aus den bisherigen vier Wochenlektionen für zwei Fächer sind es jetzt noch deren drei. Hinzu kommt, dass die Stoffmenge nicht entsprechend gekürzt wurde. Ausserdem bleibt Staatskunde und politische Bildung weiter als Teil des Faches Geschichte bestehen. Dies ist die Situation, die die Starke Volksschule St. Gallen bewog, das Thema aufzugreifen und dessen vielseitige Implikationen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Urs Kalberer, Sekundarlehrer

Die beiden Referenten Mario Andreotti und Hanspeter Amstutz stellten aus unterschiedlichen Blickwinkeln die folgenden Befunde zur aktuellen Lage des Geschichtsunterrichts an der Volksschule und an den Gymnasien fest:

  • Drastische Abnahme der Geschichtskenntnisse.
  • Abschied vom reinen Faktenwissen zugunsten von Kompetenzen, was zu einer Beliebigkeit in der Stoffauswahl führt.
  • Geschichte wird mehr und mehr in thematischen Längsschnitten unterrichtet (z.B. Geschichte des Sklavenhandels) statt in Epochen.
  • Geschichte der Schweiz wird vernachlässigt.
  • Kompetenzziele sind zu akademisch

Verhinderer oder Ewiggestrige?

Angesichts des ungebremsten gesellschaftlichen und technologischen Wandels stellt sich die Frage, weshalb sich die Referenten so vehement für eine Aufwertung des Faches Geschichte stark machen. Sie setzen sich damit der Gefahr aus, als Verhinderer oder Ewiggestrige abgestempelt zu werden. Diesem Vorwurf halten sie die grosse kulturelle und gesellschaftspolitische Bedeutung des Wissens über Geschichte entgegen:

  • Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält.
  • Geschichte hilft uns zu begreifen, wer wir sind und wie wir dazu geworden sind.
  • Wissen um unsere Vergangenheit ist Teil unserer Kultur.
  • Mythen stiften Sinn und Identität (vgl. Gründungssaga der Stadt Rom), sie sollten aber als Mythen erkennbar sein.
  • Landes-, respektive Lokalgeschichte als Gegengewicht zur Globalisierung.

Die Forderungskataloge für die Volksschule und das Gymnasium wurden vom Publikum intensiv diskutiert. Es bleibt zu hoffen, dass sich Politik und Bildungsverwaltung im Klaren darüber sind, welch grossen Schatz sie mit der fortschreitenden Marginalisierung des Geschichtsunterrichts im Begriff sind zu verspielen.

The post Geschichte unter Druck first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/geschichte-unter-druck/feed/ 0
Chat GPT https://condorcet.ch/2023/11/chat-gpt/ https://condorcet.ch/2023/11/chat-gpt/#comments Fri, 24 Nov 2023 14:39:40 +0000 https://condorcet.ch/?p=15352

In der lesenswerten Bidungsbeilage der NZZ (Mittwoch, 22. November 2023), die sich mit der Künstlichen Intelligenz beschäftigte, sind wir auf ein bemerkenswertes Zitat eines Maturanden gestossen.

The post Chat GPT first appeared on Condorcet.

]]>

Ich habe keines meiner Bücher gelesen. Das hat alles die KI für mich gemacht. Ich habe trotzdem eine Sechs bekommen!

Maturand eines Zürcher Gymnasiums

The post Chat GPT first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/chat-gpt/feed/ 3
Einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in Kitas und Grundstufe stoppen https://condorcet.ch/2023/11/einseitige-fixierung-auf-digitaltechnik-in-kitas-und-grundstufe-stoppen/ https://condorcet.ch/2023/11/einseitige-fixierung-auf-digitaltechnik-in-kitas-und-grundstufe-stoppen/#respond Wed, 22 Nov 2023 19:55:10 +0000 https://condorcet.ch/?p=15338

Digitalisierung gilt derzeit im Bildungsbereich für alle Altersstufen als zeitgemässe Lösung von Bildungsfragen. Tatsächlich sind die Wirkungen und Nebenwirkungen digitaler Medien auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse wissenschaftlich oft ungeklärt. Condorcet-Autor Ralf Lankau hat einen Aufruf mitinitiiert, der aufgrund der neusten Studien und Erkenntnisse ein Moratorium einer einseitigen Fixierung auf die Digitaltechnik fordert.

The post Einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in Kitas und Grundstufe stoppen first appeared on Condorcet.

]]>

Digitalisierung gilt derzeit im Bildungsbereich für alle Altersstufen als zeitgemäße Lösung von Bildungsfragen. Tatsächlich sind die Wirkungen und Nebenwirkungen digitaler Medien auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse wissenschaftlich oft ungeklärt. Vielmehr verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und

.
Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Condorcet-Autor und einer der Initiatoren des Aufrufs Bild: Lankau

Jugendlichen durch digitale Medien. Im Sinne der Fürsorgepflicht öffentlicher Bildungseinrichtungen fordern wir daher ein Moratorium der Digitalisierung insbesondere der frühen Bildung bis zum Ende der Unterstufe (Kl. 6): Es müssen zuerst die Folgen der digitalen Technologien abschätzbar sein, bevor weitere Versuche an schutzbefohlenen Kindern und Jugendlichen mit ungewissem Ausgang vorgenommen werden. Diese haben nur ein Leben, nur eine Bildungsbiografie und wir dürfen damit nicht sorglos umgehen. Zu untersuchen sind insbesondere Fragen der medizinisch-psychologischen, der pädagogisch-didaktischen und der politisch-demokratietheoretischen Implikationen. Zu den wissenschaftlich fundierten Einsprüchen zählt etwa die Stellungnahme von fünf Professorinnen und Professoren des schwedischen Karolinska-Instituts. Sie warnen vor negativen Auswirkungen von Bildschirmmedien auf das Lernen und die Sprachentwicklung von Kindern. Der U.S. Surgeon General warnt vor den Folgen für die generelle mentale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen durch längere Nutzungsdauer und das immer frühere Einstiegsalter bei Bildschirmmedien. Das korrespondiert mit Untersuchungen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und Empfehlungen von Kinderärzten und Psychologen. Die UNESCO kritisiert im „2023 Global Education Monitor“ darüber hinaus, dass bei aktuellen IT-Konzepten für Bildungseinrichtungen nicht das Lernen und der pädagogische Nutzen im Mittelpunkt stünden, sondern wirtschaftliche Interessen. Dazu kommen immer mehr Datenverarbeitungssysteme, die als „Künstliche Intelligenz“ (KI) automatisiert beschulen und testen sollen, um fehlende Lehrkräfte zu ersetzen. Dabei hat zuletzt die Corona-Pandemie das Scheitern solcher Ersatzsysteme belegt. Der

Vielmehr verdichten sich die wissenschaftlichen Hinweise auf enorme Nachteile und Schäden für die Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen durch digitale Medien. Im Sinne der Fürsorgepflicht öffentlicher Bildungseinrichtungen fordern wir daher ein Moratorium der Digitalisierung insbesondere der frühen Bildung bis zum Ende der Unterstufe.

Deutsche Ethikrat warnt daher in seinen Empfehlungen zur „KI und Bildung“ explizit vor der Ersetzung der Lehrkräfte durch Computerprogramme, die UNESCO empfiehlt den Umgang mit KI erst ab 13 Jahren. Es ist daher dringend notwendig, die einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in KITAs und Schulen zu revidieren, um interdisziplinär und wissenschaftlich fundiert, mit Fokus auf Entwicklungs-, Lern- und Bildungsprozesse über IT und KI in Bildungseinrichtungen zu diskutieren. Bei Erziehung und Unterrichten muss das Wohl der Lernenden und die Wirksamkeit pädagogischen Handelns im Mittelpunkt stehen. Dazu fordern wir ein Moratorium und den öffentlichen Diskurs über die notwendigen pädagogischen Prämissen des Einsatzes digitaler Medien in Bildungseinrichtungen.

Prof. Dr. Volker Bank, Technische Universität Chemnitz, Professur für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Chemnitz

Prof. Dr. med. Jürg Barben, Leitender Arzt Pneumologie/Allergologie, Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen

Prof. Dr. Peter Bender, Universität Paderborn, Fakultät für Elektrotechnik, Informatik und Mathematik, Paderborn

Prof. em. Dr. Carl Bossard, Gründungsrektor Pädagogische Hochschule PH Zug

Dr. Jutta Breithausen, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften,Institut für Erziehungswissenschaft, Wuppertal

Prof. Dr. Ute Büchter-Römer, apl. Professorin an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln

Prof. Dr. Thomas Damberger, Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung, Freie Hochschule Stuttgart

Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer, Pädagogische Hochschule Heidelberg, Institut für Erziehungswissenschaft

Prof. Dr. Dr. Thomas Fuchs, Karl-Jaspers-Professor für Philosophie und Psychiatrie, Psychiatrische Universitätsklinik, Heidelberg

Dr. med. Dr. h.c. Michaela Glöckler, Kinder-und Jugendärztin

Prof. Dr. Johannes Grebe-Ellis, Universitätsprofessur für Physik und ihre Didaktik, Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften, Bergische Universität Wuppertal

Prof. Dr. Bernhard Hackl, Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Schulpädagogik, Abteilung Schulpädagogik, Graz

Prof. Dr. Gaby Herchert, Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Geisteswissenschaften,Germanistik, Duisburg

Prof. Dr. Norbert Hungerbühler, Departement Mathematik, ETH Zentrum, HG E63.1, Rämistrasse 101, CH-8092 Zürich

Universitätsprofessor a.D., Dr. rer. pol. Hans-Carl Jongebloed, Universität Kiel, Institut für Pädagogik, Lehrstuhl für Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Prof. Dr. Rainer Kaenders, Mathematisches Institut, Hausdorff Center for Mathematics, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Bonn

Dr. Beat Kissling, Psychologe und Erziehungswissenschaftler/Gymnasiallehrer, Zürich

Prof. em. Dr. Hans Peter Klein, Didaktik der Biowissenschaften, Goethe Universität Frankfurt

Prof. Dr. Jochen Krautz, Bergische Universität Wuppertal, Fakultät für Design und Kunst

Prof. em. Dr. Hans-Dieter Kübler, Professor für Sozial-, Kultur- und Medienwissenschaften, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg

V.i.S.d.P.: Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V., Web: https://bildung-wissen.eu Wissenschaftler fordern Moratorium der Digitalisierung in KITAs und Schulen 3 | 9

PD Dr. Axel Bernd Kunze (Univ. Bonn)

Prof. Dr. Volker Ladenthin, Arbeitsbereich Bildungswissenschaft, Lehrstuhl für Historische und Systematische Erziehungswissenschaft, Bonn

Prof. Dr. phil. Ralf Lankau, Fakultät Medien, HS Offenburg

Hon.Prof. Dr. Christoph Möller, Chefarzt, Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie,

Psychotherapie und Psychosomatik, Zentrum für Kinder und Jugendliche, Hannover

Prof. Dr. Jürgen Rekus, Institut für Allgemeine Pädagogik, Universitätsbereich im Karlsruher Institut für Technologie, Karlsruhe

Prof. Dr. Ingo Reuter, Kulturwissenschaften, Univ. Paderborn

Prof. i. R. Dr. Christian Rittelmeyer, Professor für Erziehungswissenschaft am Pädagogichen Seminar der Universität Göttingen

Dr. Klaus Rodens, Kinder- und Jugendarzt, Angertorstr. 6, 89129 Langenau

Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski, Institut für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität zu

Köln, Köln

Prof. Dr. Thomas Sonar, Institut Computational Mathematics, AG Partial Differantial Equations PDE, Technische Universität Braunschweig, Braunschweig

Prof. Dr. med. Dr. phil. Manfred Spitzer, Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III

Prof. Dr. Gertraud Teuchert-Noodt, Neurobiologin, ehem. Universität Bielefeld

Prof. Dr. Christoph Türcke. em. Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig

Prof. Dr. Anke Wegner, Institut für Germanistik, Didaktik der deutschen Sprache/Deutsch als Zweit- und Fremdsprache, Universität Trier

Prof. Dr. Ysette Weiss, Institut für Mathematik, AG Fachdidaktik Mathematik, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz

Prof. em. Dr. Dr.h.c Erich Ch.Wittmann, Projekt Mathe 2000, Technische Universität Dortmund

Prof. Dr. Klaus Zierer, Ordinarius für Schulpädagogik, Universität

The post Einseitige Fixierung auf Digitaltechnik in Kitas und Grundstufe stoppen first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/einseitige-fixierung-auf-digitaltechnik-in-kitas-und-grundstufe-stoppen/feed/ 0
Geschichtslehrer fordern Umdenken https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/ https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/#respond Wed, 22 Nov 2023 17:04:30 +0000 https://condorcet.ch/?p=15341

Professor Mario Andreotti und Hanspeter Amstutz haben an einem traditionellen Anlass der Kinderärzte in St. Gallen ihre Thesen zum Geschichtsunterricht vorgestellt. Die beiden Geschichtslehrer, die auch im Condorcet-Blog regelmässig Beiträge veröffentlichen, sparten dabei auch nicht mit Kritik am Lehrplan 21 und der Lehrplanreform der Gymnasien. Daniel Wahl, Journalist des "Nebelspalter", war dabei.

The post Geschichtslehrer fordern Umdenken first appeared on Condorcet.

]]>

Die Fakten: Seit mehr als 100 Jahren hat die Geschichte im Fächerkanon der Gymnasien einen festen Platz: mindestens zwei Wochenlektionen über alle vier Jahre. Mit der Maturitätsreform findet dort nun ebenso ein Abbau statt, wie er bereits an Primar- und Sekundarschulen erfolgt ist. Jetzt formulieren Geschichtslehrer Hanspeter Amstutz und Mario Andreotti Thesen, um die anstehenden Debatten in Bildungsräten und diversen Kantonsparlamenten gegen den weiteren Abbau des Geschichtsunterrichts zu unterstützen.

Gastautor Daniel Wahl, Journalist beim “Nebelspalter”

Warum das wichtig ist: Immer weniger Jugendliche können erzählen, wie sich die Schweiz konstituiert hat. Wie Germanist und Geschichtslehrer, Professor Mario Andreotti, als Kompanie-Kommandant bei Fourier-Anwärtern nach Befragungen festgestellt hat, ist “wichtiges Geschichtswissen praktisch nicht mehr vorhanden”.

  • Die drei Gewalten Judikative, Legislative und Exekutive könnten nicht mehr benannt werden.
  • Das Wissen, wie sich eine repräsentative von einer direkten Demokratie unterscheidet, sei nahezu nicht mehr vorhanden.
  • Das Desinteresse an der Geschichte zeige sich auch an den Universitäten. Dort sei ein dramatischer Einbruch der Geschichtsstudenten von 40 Prozent über die letzten fünf Jahre zu verzeichnen.

O-Ton Andreotti: “Man muss sich nicht wundern, wenn Leute, die nie von Demokratie etwas gehört haben, nicht an Abstimmungen teilnehmen.”

Bei der Geschichtskunde gehe es nicht einfach darum, aus der Vergangenheit das Heute zu verstehen. Es gehe um die Möglichkeit, die menschliche Existenz zu begreifen. “Die Geschichte gibt Antwort auf die Frage: Wie sind wir zu dem geworden, was wir sind”, sagt der Professor.

O-Ton Amstutz: “Das Fach Geschichte braucht wieder ein klares Profil. Lehrer und Eltern möchten gerne wissen, was denn an Schweizer Sekundar- und Primarschulen verbindlich unterrichtet wird.”

Es könne nicht sein, dass nur in einigen wenigen Klassen ein lebendiger Einblick ins 20. Jahrhundert vermittelt wird, während die Mehrheit irgendwo zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg stecken bleibt.

  • Die Schweizer Geschichte trägt bei zum nationalen Zusammenhalt.
  • Geschichte ist identitätsbildend.

The Big Picture: Die Marginalisierung des Geschichtsunterrichts hat verschiedene Ursachen und mit der linken Gegenkultur der 1968er-Bewegung eingesetzt. Zunächst wurden die Schattenseiten von historischen Persönlichkeiten hervorgehoben. Zum Beispiel wird Alfred Escher angebliche Beziehung zur Sklaverei unterstellt (Link). Demontiert wurden Schritt für Schritt Wilhelm Tell, die Schlacht von Morgarten und Arnold Winkelried. Hauptverantwortlich macht Andreotti dafür die beiden Historiker Thomas Maissen und Werner Meyer, die beide Geschichtsmythen bekämpften.

O-Ton Andreotti: “Es geht mir nicht um Verklärung von Helden. Aber Mythen sind der Kitt der Gesellschaft und für die Identitätsfindung wichtig. Es gibt keinen Staat ohne mythisches Fundament.”

Der Geschichtsabbau an den Schulen fand gemäss Amstutz und Andreotti wie folgt statt:

  • 2000 erste PISA-Studie: Der Geschichtsunterricht wird nicht “gemessen”, sondern nur das, was volkswirtschaftlich “nützlich” erscheint, wie Rechnen oder Leseverständnis. Die unterschwellige Botschaft an die Historiker: Geschichte ist überflüssig
  • 2004 verabschiedete die Eidgenössische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) das Konzept mit zwei Fremdsprachen auf der Primarstufe. Es ging auf Kosten des Geschichtsunterrichts.
  • Ab 2014 Lehrplan 21: Reduzierung des Geschichtsunterrichts auf Primarschulebene im Sammelfach “Räume Zeiten Gesellschaften”. Ohne verbindlichen Aufbau, was die Beliebigkeit der Lehrinhalte begünstigte.
  • Lehrplan 21: An den Sekundarschulen ist Geschichte mit Geografie vereint und von vier auf drei Stunden reduziert worden. Die Lehrer verteilen die Stunden oft nach ihren eigenen Präferenzen.
  • Lehrplan 21: Statt Inhalte werde Kompetenzen formuliert. Dazu Andreotti: “Für den Geschichtsunterricht sind Kompetenzen Gift. Es geht um Inhalte.”
  • Maturitätsreform: Geschichte wird nur noch im zweiten, dritten und vierten Gymnasialjahr vermittelt. Eine dritte Stunde findet im vierten Jahr als Thema “politische Bildung” statt.
Mit Geschichte steht der Fächerkanon auf Kriegsfuss.

Die Indikatoren dafür, dass der “Geschichtsunterricht in den Schulen am Boden” ist, wie sich Hanspeter Amstutz ausdrückt, sind folgende:

  • Es gibt (wie Andreotti und Amstutz sagen) keinen eigenen Lehrstuhl mehr für Schweizer Geschichte an einer Schweizer Universität.
  • An den Schweizer Lehrerfortbildungstagen in St. Gallen gab es bei 111 Kursen keinen einzigen Weiterbildungskurs im Bereich Geschichte.
  • Als Kursleiter in Weiterbildung für Geschichte an der Sekundarschule hat Amstutz Einblick in den Geschichtsunterricht: die Vermittlung von aufbauender Geschichte, die zu einem chronologischen Geschichtsverständnis führt, ist die Ausnahme. Häufig sind nur noch Längsschnitte – “eine Postmoderne Beliebigkeit”: Man unterrichte beispielsweise Geschichte zum Thema Energie oder zum Thema Kolonialismus.
  • All dies kratzt am Berufsbild: Das Interesse am Geschichtsfach an Universitäten nimmt rapide ab, trotz steigender Studentenzahl.

 

Die neusten Zahlen will die Universität Zürich dem “Nebelspalter” nicht vorlegen, weil es sich angeblich noch um eine provisorische Erhebung handeln würde. Der Abbau der vergangenen Jahre ist aber wie folgt dokumentiert.

Grafik Datawrapper Sinkende Zahl von Studenten an der Universität ZürichWie es weitergeht: Zur Aufwertung des Geschichtsunterrichts haben Amstutz und Andreotti Thesen aufgestellt und diese vergangene Woche Interessierten in St. Gallen präsentiert.

Fürs Gymnasium in Kürze:
  • Durchgehender Unterricht von der ersten bis zur vierten Klasse mit mindestens zwei Wochenlektionen
  • “Politische Bildung” soll als eigenständiges Fach geführt werden
  • Chronologischer Aufbau des Geschichtsunterrichts
  • Genügend Raum für die Schweizer Geschichte, zum besseren Verständnis der Demokratie
  • Geschichte soll in Deutsch unterrichtet werden und ein vollwertiges Maturafach sei
Für die Volksschule:
  • Verbindliche Inhalte statt Kompetenzziele. “Kompetenzen sind das Nebenprodukt”
  • Vermittlung der Erfolgsgeschichte Schweiz als verbindlicher Auftrag an die Schule
  • Chronologischer Aufbau der Schweizer Geschichte anhand von “Meilensteinen”
  • Förderung der Erzählkunst an den Pädagogischen Hochschulen
  • Erhöhung der Lektionenzahl wieder auf mindestens zwei Geschichtsstunden pro Woche.

The post Geschichtslehrer fordern Umdenken first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/geschichtslehrer-fordern-umdenken/feed/ 0
Eine kritische Stimme zum radikalen Digital Turn https://condorcet.ch/2023/11/eine-kritische-stimme-zum-radikalen-digital-turn/ https://condorcet.ch/2023/11/eine-kritische-stimme-zum-radikalen-digital-turn/#comments Mon, 20 Nov 2023 13:17:18 +0000 https://condorcet.ch/?p=15331

Die Bildungspolitik kennt zurzeit zwei primäre Stossrichtungen: Ökonomisierung und Digitalisierung. Gleichzeitig drängen EdTech-Konzerne und IT-Unternehmen in die Schule. Sie nehmen Einfluss auf Bildungsgehalte. Eine kluge Studie beleuchtet die Hintergründe und macht Mut fürs Pädagogische. Condorcet-Autor Carl Bossard hat das Buch gelesen.

The post Eine kritische Stimme zum radikalen Digital Turn first appeared on Condorcet.

]]>

Es ist ein kurzer Text, aber ein couragierter – und von gewichtigem Gehalt, die Publikation «Kritik und Verantwortung» von Nils B. Schulz.[1] Da löckt ein erfahrener Gymnasiallehrer und Publizist klug wider den Stachel des Zeitgeistes und des Mainstreams Digital Turn – mit der forcierten Digitalisierung der (Primar-)Schulen und dem Imperativ des «Bring your own device (BYOD): jeder und jede mit dem eigenen Gerät im Schulzimmer, seien es LaptopsTablets oder Smartphones.

Carl Bossard, 74, ist Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Zug. Davor war er als Rektor der kantonalen Mittelschule Nidwalden und Direktor der Kantonsschule Luzern tätig. Heute begleitet er Schulen und leitet Weiterbildungskurse. Er beschäftigt sich mit schulgeschichtlichen und bildungspolitischen Fragen.

Da erinnert ein engagierter Pädagoge daran, dass der Geist einer lebendigen Schule durchaus auch ein Geist des Widerspruchs ist – und Bildung etwas Antizyklisches in sich trägt: Bildung als «Unverführbarkeit», wie es der Philosoph Hans Blumenberg einmal ausgedrückt hat[2] – ein Diktum von brennender Aktualität in Zeiten von Fake News in digitalen Medien, von Künstlicher Intelligenz KI und vorschneller Identitätspolitik. Der Untertitel von Schulz’ lesenswerten Essays weist daraufhin: «Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik».

 

Aufwachsen in einer Welt aus zweiter Hand

Wir alle spüren: Unser Leben verliert das, was das Erlebnis von Gegenwärtigkeit ausmacht: Körperlichkeit und physische Präsenz. An ihre Stelle tritt eine vermittelte Weltwahrnehmung. Touchscreens und Monitore haben sich zwischen die Welt und uns geschoben. Wir sind fast immer online – nicht nur die Jugendlichen – und fühlen uns laufend aufgefordert, irgendwie auf die Welt zu reagieren, auch wenn das, was wir als Welt bezeichnen, mehr und mehr aus Daten und elektronischen Signalen besteht. Eine virtuelle Welt, eine Parallelwelt.

Die Realität zeigt es: Das Spielen mit dem Smartphone nimmt mittlerweile den ersten Platz unter den Aktivitäten der 6- bis 13-jährigen Kinder ein. Viele Jugendliche verbringen zwischen vier bis acht Stunden täglich im Netz; manche sehen ihre Freundinnen und Kollegen mehr online als analog. Das hat Folgen. Dazu zählen beispielsweise die Internetsucht und eine vermehrte soziale Isolation, die Abnahme von Kreativität und Empathie fürs Gegenüber sowie der Fähigkeit, geduldig auf etwas zu warten und auszuharren. Viele Kinder können kaum mehr vertieft spielen, diagnostizieren Sozialpsychologen, die Aufmerksamkeitsspanne werde spürbar kleiner, die Unselbständigkeit nehme zu.[3]

Das Schulkind als postmoderner Einzeller?

Was heisst es nun, Lehrerin im digitalen Zeitalter zu sein, als Ausbildner zu wirken – in medienphilosophischer wie in pädagogischer Hinsicht? Und was bedeutet es für den Kern der Schule, für das pädagogische Dreieck «Lehrer – Schülerin – Unterrichtsthema», wenn zunehmend Digitaltechniken in den Schulalltag drängen und sich EdTech-Konzerne als Stakeholders im Bildungswesen verstehen?

Das ist die Kernfrage der Studie, und darum untersucht sie auch den didaktischen Newspeak und die technokratische Sprachpolitik im Bildungssystem. Ihr enges ökonomistisches Vokabular, so Schulz, bekommt Unterricht als lebendiges Miteinander-Sein, als gemeinsames Nachdenken kaum mehr in den Blick. Das Gemeinsame und Soziale werden wie ausgeblendet. Im Zusammenspiel mit digitalen Tools entstehen neue Formen des Lehrens und Lernens. Die Gefahr ist gross, dass Kinder zu postmodernen Einzellern werden. Gefragt und gepusht ist das isolierte Lernen in der Atmosphäre eines digitalisierten Grossraum-Schulbüros.

Das Schulzimmer der Zukunft? Einzelboxen? Jeder sein eigener Lerner? Die Sekundarschule Sandgruben Basel (Bild: Roman Weyeneth/Stücheli Architekten AG)

Solche Formen werden heute mit Schulpreisen prämiert. Dagegen wehrt sich Schulz. Nicht jedes Kind ist sein eigener Lerner, wie das heute propagiert wird, nicht jeder Schüler lernt selbstorientiert effizient genug. Es braucht das Soziale und Emotionale, es braucht fürs Mensch-Werden das menschliche Vis-à-Vis. Lernen basiert auf dem direkten Kontakt mit Menschen: Bildung als Erlebnis von gemeinsamer Gegenwärtigkeit. Das zu betonen bedeutet aber nicht, ein Relikt aus Jeremias Gotthelfs Zeiten zu revitalisieren oder die digitalen Möglichkeiten zu eliminieren.

 

Das Nadelöhr des digitalen Weltbezugs

Lernen ist ein dialogisches Geschehen, ein zwischenmenschlicher Austausch. Das zeigt die Lernpsychologie, das belegt die Neurowissenschaft. Darum sind Momente der Präsenz so wichtig, ein vitales Gegenüber – ein physisch spürbares Vis-à-Vis, mit Augenblicken des Nachdenkens im sozialen Miteinander und des gemeinsamen Gedankenaustausches. Das gilt für den Alltag, und das gilt ganz besonders für die Schule, und hier primär für die Volksschule.

Das Erleben einer gemeinsamen Welt im Schulzimmer und darüber hinaus ist dem Autor ein fundamentales Anliegen. «Doch bildschirmvermittelte Unterrichtsthemen erschaffen eben keinen gemeinsamen Resonanzraum», wie Schulz mit Verweis auf den Soziologen Hartmut Rosa hervorhebt.[4] Denn der Bildschirm, so Rosa, werde «zu einer Art Nadelöhr, durch das sich unsere Welterfahrung und Weltaneignung vollzieht, was eine tendenzielle Uniformierung oder Mono-Modularisierung des Weltbezugs zur Folge hat».[5]

Vom Bedeutsamen des (Vor-)Zeigens

Darum sei das Zeigen für die zwischenmenschliche Kommunikation im Unterricht so bedeutsam, betont Schulz. Er beruft sich dabei auf die anthropologischen Forschungen des US-amerikanischen Evolutionsbiologen Michael Tomasello. Doch je mehr das Zeigen durch das Anzeigen digitaler Medien ersetzt werde, desto mehr reduziere sich die Welterfahrung von Kindern und Jugendlichen.

Wie wichtig das Zeigen und damit das Gemeinsame ist, verdeutlich Schulz an einem Bild aus der Zeit der Reformpädagogik. Er will damit aber nicht in die «Kreidezeit» oder ins «Digitale Steinzeitalter» zurückführen.

Der Reformpädagoge und Lehrer Carl Dantz (um 1927)Bild: Fotosammlung Schulmuseum Bremen

«Dies ist unsere Welt»

Es ist die Atmosphäre gemeinsamen Lernens, die den Autor fasziniert, die triadische Situation zwischen einem vital präsenten Lehrenden, den aufmerksamen Lernenden Kindern und einem Lerngegenstand. Und dieser Gegenstand liegt nicht als abstrakte Zeichnung vor; er wird mehrdimensional wahrgenommen. Jedes Kind hat ihn auch in der Hand.

 Damit verbunden ist das Elementare einer jeden Schulbildung: Mit-Verantwortung übernehmen für diese Welt. Und das Gefühl für diese Welt baut sich im «(Da-)Zwischen» auf. «Die Welt liegt zwischen den Menschen», unterstreicht Hannah Arendt 1959, als sie den renommierten «Lessing-​Preis der Freien und Hansestadt Hamburg» verdankt.[6] Gegenüber dem Kind, so Arendt, nehmen Lehrerinnen und Lehrer es gleichsam auf sich, «die Erwachsenen zu repräsentieren, die ihm sagen und im Einzelnen zeigen: Dies ist unsere Welt»[7]. Es geht nicht primär um den Aufbau «eigener Welten», sondern um die Befähigung, an einer gemeinsamen Welt zu partizipieren und darin Sinn zu finden; das ist die pädagogische Funktion der Schule.

 «Im Anderen zu sich selbst kommen»

Schulz‘ Schrift ist ein analytisches Buch, nicht eine Broschüre mit Rezepten. Sie regt zum Nachdenken an und zum Handeln. Das macht seine Gedanken so wertvoll. Es geht um eine Rückbesinnung auf das Eigentliche und Wesentliche von Schule und Unterricht, auf die Bildung zum Menschsein. Das kommt auch in einem aufrüttelnden Text des Schriftstellers Lukas Bärfuss zum Ausdruck; Schulz stellt ihn zu Recht an den Anfang seines Essays. Lehrerinnen und Lehrer sollten sich (wieder) auf eine ihrer wichtigen Aufgabe besinnen: den Kindern und Jugendlichen zu zeigen, «wie das gehen könnte / dieses Spiel / ein Mensch zu werden».[8]

«Im Anderen zu sich selbst kommen» – und dabei eine unverwechselbare Identität gewinnen, wie der Philosoph Georg Friedrich Hegel das Wesen von Bildung bestimmt – im Spiel, ein Mensch zu werden: mit der Mit-Verantwortung für diese Welt.

[1] Nils B. Schulz (2023), Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik. München. Claudius Verlag. 152 Seiten

[2] Hans Blumenberg (1961), «Weltbilder und Weltmodelle», in: Schriften zur Technik. Herausgegeben von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Suhrkamp, 2015, S. 126-137, hier: S. 136.

[3] Vgl. Jonathan Haidt (2023), Handys raus aus der Schule!, in: Schweizer Monat. Die Autorenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur. Ausgabe 1111/9, November 2023, S. 10ff.

[4] Schulz (2023), S. 39.

[5] Hartmut Rosa (2016), Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 157.

[6] Hannah Arendt (2019), Gedanken zu Lessing. Von der Menschlichkeit in finsteren Zeiten, in: Dies. (2019), Menschen in finsteren Zeiten. 5. Aufl. Hrsg. von Ursula Ludz. München: Piper Verlag, S. 12.

[7] Schulz (2023), S. 30.

[8] Ebda., S. 5 und 122. Der Text ist publiziert in: Lukas Bärfuss (2018), Ode an die Lehrer, in: Stil

und Moral. Essays. München: btb Verlag, S. 152ff.

 

The post Eine kritische Stimme zum radikalen Digital Turn first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/eine-kritische-stimme-zum-radikalen-digital-turn/feed/ 1
Einfache Frage – einfache Antwort: Wozu sind wir in der Schule? https://condorcet.ch/2023/11/einfache-frage-einfache-antwort-wozu-sind-wir-in-der-schule/ https://condorcet.ch/2023/11/einfache-frage-einfache-antwort-wozu-sind-wir-in-der-schule/#comments Mon, 20 Nov 2023 12:23:27 +0000 https://condorcet.ch/?p=15330

Condorcet-Autor Urs Kalberer stellt mit seinem Beitrag eine einfache, aber existentielle Frage an unsere Institution. Und er gibt die Antwort.

The post Einfache Frage – einfache Antwort: Wozu sind wir in der Schule? first appeared on Condorcet.

]]>
Urs Kalberer, Sekundarlehrer: Lernen, viel lernen

Die erste Frage des Katechismus lautet: «Wozu sind wir auf Erden?» Den Pensionierten unter uns dürfte die auswendig gelernte Antwort noch immer geläufig sein: «Wir leben auf Erden, um Gott zu dienen und dadurch in den Himmel zu kommen.» Das ist Klartext. Bezogen auf die Schule fällt uns die Antwort nicht mehr so leicht. Zu viel ist in den letzten Jahrzehnten geschehen. Die Schule, dieser Riesentanker auf offener See, geriet in dichten Nebel. Die Navigation wurde schwieriger, das Schiff kam vom Kurs ab, die Kapitäne zuckten mit den Achseln und blickten hilfesuchend durch ihre Ferngläser. Die Frage nach dem Ziel und Zweck der Schule wird je nach Situation anders gesehen. Eine Umfrage («Was macht eine gute Schule aus?») anlässlich eines Weiterbildungskurses an meiner Schule brachte die folgenden Antworten:

Haltungsbewusstsein – Reflexionsfähigkeit – Gelebter Respekt – Ressourcenorientierung – Tolle LP und SuS – Gute Infrastruktur – Beziehungskultur – Teamentscheide – Infrastruktur – Beziehung zur Klasse – Nicht stressige Atmosphäre – Guter Support von Schulleitung – Offenheit – Empathie – Diskussionskultur – Positive Grundhaltung – Teamarbeit – Jede Person wird akzeptiert, wie sie ist – Einhaltung von Regeln – Lebensweltbezug – Vielfältigkeit – Offen für Neues – Abwechslung – Kreativität – Unterrichtsqualität – Sicherheit – Gutes Arbeitsklima – Angenehmer Stundenplan – Gutes Material – Ehrlichkeit – Am gleichen Strick ziehen – Entwickelt sich gemäss den Ansprüchen der Gesellschaft – Auf Lehr- und Lernbedürfnisse ausgerichtet

Deshalb nun die Frage: Was ist denn die hauptsächlichste Aufgabe der Volksschule? Weshalb ist sie obligatorisch für alle Kinder? Ganz einfach: Die Schule ist fürs Lernen da. Eine gute Schule ist eine Schule, in der die Kinder viel lernen!

Schreiben lernen – eine anspruchsvolle Aufgabe (Bild: KEYSTONE)

Die Frage, was eine gute Schule ausmacht, hängt direkt mit dem Sinn und Zweck dieser Institution zusammen. Eine gute Schule ist demnach eine Schule, die ihren Zweck erfüllt. Doch machen die obgenannten, allesamt lobenswerten, Antworten wirklich eine gute Schule aus? Ist der Zweck der Schule wirklich, dass man im Team arbeitet oder ein vielseitiges Angebot bereitstellt? Geht es wirklich prioritär darum, Offenheit oder Empathie zu fördern? Mir scheint, das wichtigste Kriterium einer guten Schule sei vielen Lehrerinnen und Lehrern (und auch den Schulleitungen!) nicht mehr bewusst.

Deshalb nun die Frage: Was ist denn die hauptsächlichste Aufgabe der Volksschule? Weshalb ist sie obligatorisch für alle Kinder? Ganz einfach: Die Schule ist fürs Lernen da. Eine gute Schule ist eine Schule, in der die Kinder viel lernen! Was müssen sie denn alle wirklich können? Lesen, Schreiben und Rechnen. Und noch viel mehr, wenn man dem Lehrplan 21 gehorcht. Doch wir wissen, dass längst nicht alle Schüler nach neun Schuljahren lesen, schreiben und rechnen können. Vom Rest des im Lehrplan erwähnen Katalogs wollen wir gar nicht sprechen.

Entscheidend ist, was dank diesen Voraussetzungen erreicht wird.

Eine gute Schule ist also eine, in der die Schüler viel lernen. Eine schlechte Schule ist eine, in der die Schüler wenig lernen. So simpel kann es sein. Wenn eine Schule eine gute Infrastruktur bietet, alle gut miteinander auskommen und sich sicher fühlen, dann sind das gute Voraussetzungen fürs Lernen, aber dies reicht noch lange nicht, um als gute Schule bezeichnet werden zu können. Die vom Lehrerteam gegebenen Antworten sind demnach keine Indikatoren für eine gute Schule, sie sind bloss Voraussetzungen fürs Lernen. Entscheidend ist, was dank diesen Voraussetzungen erreicht wird. Was die Jugendlichen am Ende der obligatorischen Schulzeit nicht wissen oder können, das bleibt den meisten von ihnen auch später im Leben verschlossen. Weil dies so entscheidend für die Zukunft ist, muss man es auch mit Nachdruck einfordern: Lehrerinnen und Lehrer können noch so empathisch und mit einem grossen didaktischen Werkzeugkasten ausgerüstet sein – sie erfüllen ihren Auftrag nur, wenn die Kinder bei ihnen auch etwas lernen. Am besten Rechnen, Lesen und Schreiben.

Zugegeben: Hartnäckiges Fordern und Fördern ist nicht immer ein Zuckerschlecken. Aber auf dem Weg in die pädagogische Meisterklasse führt nichts daran vorbei.

 

The post Einfache Frage – einfache Antwort: Wozu sind wir in der Schule? first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/einfache-frage-einfache-antwort-wozu-sind-wir-in-der-schule/feed/ 1
Juden gelten als Täter, Palästinenser sind Opfer – der militante Antirassismus wird zur Lehrmeinung https://condorcet.ch/2023/11/juden-gelten-als-taeter-palaestinenser-sind-opfer-der-militante-antirassismus-wird-zur-lehrmeinung/ https://condorcet.ch/2023/11/juden-gelten-als-taeter-palaestinenser-sind-opfer-der-militante-antirassismus-wird-zur-lehrmeinung/#comments Thu, 16 Nov 2023 17:50:42 +0000 https://condorcet.ch/?p=15318

An der Uni Bern verschickt ein Dozent antisemitische Tweets, an der Uni Basel bezeichnen Studierende Israel als kolonialistischen Apartheidstaat. Das sind keine Ausrutscher, es hat System. Wir bringen einen Bericht von Thomas Ribi, der in der NZZ erschienen ist.

The post Juden gelten als Täter, Palästinenser sind Opfer – der militante Antirassismus wird zur Lehrmeinung first appeared on Condorcet.

]]>

“Urban Studies” heisst das Fach. Studieren kann man es an der Universität Basel, und die Grundsätze, denen es verpflichtet ist, sind in einem dreiseitigen “Commitment” zusammengefasst. Als oberste Gebote gelten nicht, wie man das in der Wissenschaft erwarten würde, unabhängige Forschung, Transparenz über die Grundlagen oder Überprüfbarkeit der Methoden. Sondern ein Bekenntnis: “Der Studiengang Urban Studies der Universität Basel setzt sich für Racial Justice innerhalb und ausserhalb der Universität ein”, lautet der erste Satz.

NZZ-Journalist Thomas Ribi

Das ist keine wissenschaftliche Absichtserklärung, sondern ein politisches Statement. “Racial justice” steht für rassismuskritische Gerechtigkeit und ist ein Kampfbegriff der “critical race theory”. Einer an amerikanischen Universitäten entwickelten Ideologie, die den Diskurs über Rassismus in den USA prägt und sich auch an europäischen Hochschulen durchzusetzen beginnt. Mindestens dort, wo es “progressiv” zugeht.

 

Wer weiss ist, ist rassistisch. Weil Weisse das Privileg, weiss zu sein, nicht ablegen können.

 

Die “critical race theory” ist weniger von wissenschaftlichen Standards geprägt als von Glaubenssätzen: Rassismus ist überall, lautet einer davon. Wer weiss ist, ist privilegiert, ein zweiter. Und weil die Strukturen der westlichen Gesellschaft von Weissen geprägt sind, ergibt sich daraus ganz zwanglos: Wer weiss ist, ist rassistisch. Weil Weisse das Privileg, weiss zu sein, nicht ablegen können. Weisse können deshalb, auch dies ein Grundsatz des kritischen Antirassismus, nicht Opfer von Rassismus sein.

Räume für kritisches Denken

Das Commitment der Basler Urban Studies ist eine Blaupause der “critical race theory”, durchsetzt mit postkolonialer Theorie. “Wir setzen uns aktiv mit unserem kolonialen und imperialistischen Erbe sowie den daraus entstandenen rassistischen Denkweisen und Praktiken auseinander”, heisst es da. Und weiter: “Wir sind uns bewusst, dass durch unser koloniales Erbe unsere Praktiken sowie unser Wissen weiterhin von Rassismus, Antisemitismus, Islamophobie, Zionismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie und Ableismus geprägt sind. Darum bemühen wir uns, diesem Erbe entgegenzuwirken.”

Am Anfang der Wissenschaft stehen bei den Urban Studies also keine Fragen. Sondern politische Kampfbegriffe und ein Schuldbekenntnis. Wissenschaftlichkeit – wozu? Schliesslich geht es um hehre Ziele: Man wolle Ausgrenzungen aktiv entgegenwirken, heisst es. Mit dem Wissen allein ist es allerdings nicht getan, es soll auch praktisch umgesetzt werden.

 

Am Anfang der Wissenschaft stehen bei den Urban Studies also keine Fragen. Sondern politische Kampfbegriffe und ein Schuldbekenntnis.

 

Was das praktisch heisst, zeigt ein offener Brief, den die “Sonntags-Zeitung” thematisiert hat: Studierende der Sozialwissenschaft hatten ihn Mitte Oktober auf der Website der Universität publiziert. In einer Solidaritätserklärung an das palästinensische Volk bezeichneten sie die Eskalation der Gewalt im Nahen Osten als “Ergebnis einer langjährigen Politik, die auf Siedlerkolonialismus und Apartheid beruht”. Alles ganz einfach also: Schuld ist Israel. Die Gewalttaten der Hamas waren den “Racial justice”-Kämpfern keine Silbe wert. Der Brief war einen Tag lang online. Dann wurde er auf Anordnung der Universitätsleitung gelöscht.

Solidarität mit dem “globalen Süden”

Von kritischer Reflexion ist in der Stellungnahme der Basler Studierenden nichts zu spüren. Aber sie ist Ausdruck einer politischen Haltung, die an vielen europäischen und amerikanischen Hochschulen mehrheitsfähig ist: Die Welt besteht aus Unterdrückern und Unterdrückten. Die Unterdrücker sind Europa und die USA, Unterdrückte fast alle anderen.

Daraus folgt eine blinde Solidarität mit dem “globalen Süden”. Israelische Juden werden pauschal zu Kolonisten gestempelt und Israel als Kolonialprojekt verstanden, das der Westen ohne Rücksicht auf historische Gegebenheiten im Nahen Osten errichtet habe. Zionismus wird unbesehen mit Islamophobie, Sexismus und Rassismus gleichgesetzt. Das passt zu den Grundsätzen der “critical race”-Ideologie, der gemäss Juden zur weissen Mehrheitsgesellschaft gehören. Und damit per se nie Opfer sind, sondern Täter.

Unmittelbar nach dem Angriff der Hamas vom 7. Oktober hatte ein Mitarbeiter der Universität Bern die Terrorattacke auf der Social-Media-Plattform X, vormals Twitter, auf gewaltverherrlichende Weise als Akt des “palästinensischen Widerstands” gefeiert. Vergangene Woche haben Philosophieprofessoren amerikanischer und britischer Universitäten in einem offenen Brief ihre Solidarität mit Palästina bekundet und Israel als Alleintäter und Unterdrücker bezeichnet.

Wildschweine in Palästina

Der Mitarbeiter der Uni Bern wurde mittlerweile entlassen. Die amerikanischen Professoren verbreiten ihre Ansichten unbehelligt weiter. Und bei den Basler Urban Studies wird geforscht. Aber nicht nur das. Zu den Aufgaben, die sich der Fachbereich stellt, gehört ausdrücklich “die finanzielle Unterstützung für Aktivist*innen und Basisorganisationen [. . .], die sich in spezifischen Kursen für Racial Justice sowie Soziale Gerechtigkeit und Umweltgerechtigkeit einsetzen”. Zu den Begünstigten gehören NGO oder Initiativen, die mit politischen Gruppierungen zusammenarbeiten.

Viel Aktivismus also. Und wenn Forschung betrieben wird, ist Vorsicht geboten. In einer Publikation des Fachbereichs stellt ein Autor die Behauptung auf, im Westjordanland setze die “Besatzungsmacht” Israel bewusst Wildschweine aus, um die Ernten der palästinensischen Bauern zu zerstören. Beweise für die Behauptung werden keine vorgelegt, hinterfragt wird sie auch nicht. Sie gehört zu den Legenden, die von palästinensischer Seite immer wieder vorgebracht werden. In der “Urban-Studies”-Publikation wird sie unbesehen übernommen. In einem Text, der den Anspruch erhebt, wissenschaftlich zu sein.

 

Wenn die Fakultät ein derartiges politisches Manifest als Leitlinie für wissenschaftliches Arbeiten akzeptiert, ist tatsächlich Besorgnis angebracht.

 

Die Universität Basel nehme die Vorfälle “mit grosser Besorgnis” zur Kenntnis, sagt ihre Kommunikationsabteilung am Dienstag auf Anfrage. Man habe die Philosophisch-Historische Fakultät aufgefordert zu prüfen, ob bei der wissenschaftlichen Arbeit des Fachbereichs die wissenschaftlichen Standards eingehalten worden seien. Da es sich um ein laufendes Verfahren handle, könne man keine weiteren Auskünfte geben. Bei der Überprüfung sollte die Fakultät auch einen Blick auf das Commitment der Urban Studies werfen: Wenn sie ein derartiges politisches Manifest als Leitlinie für wissenschaftliches Arbeiten akzeptiert, ist tatsächlich Besorgnis angebracht.

The post Juden gelten als Täter, Palästinenser sind Opfer – der militante Antirassismus wird zur Lehrmeinung first appeared on Condorcet.

]]>
https://condorcet.ch/2023/11/juden-gelten-als-taeter-palaestinenser-sind-opfer-der-militante-antirassismus-wird-zur-lehrmeinung/feed/ 2