Kommentare zu: 5. Teil unserer Serie Worthülsen: Die Chancengleichheit https://condorcet.ch/2020/04/5-teil-unserer-serie-worthuelsen-die-chancengleichheit/ Bildungsperspektiven Wed, 29 Apr 2020 20:00:37 +0000 hourly 1 Von: Felix Schmutz https://condorcet.ch/2020/04/5-teil-unserer-serie-worthuelsen-die-chancengleichheit/#comment-245 Wed, 29 Apr 2020 20:00:37 +0000 https://condorcet.ch/?p=4794#comment-245 Die Frage der Chancengleichheit/Chancengerechtigkeit stellt sich nicht nur im Bildungsbereich, sondern auch in der Rechtsprechung, in der Politik und in der Ökonomie.

Anstoss ist die Erkenntnis, dass es nicht reicht, wenn in der Verfassung steht, dass alle vor dem Gesetz gleich sind, dass politische Ämter grundsätzlich allen offen stehen, dass alle theoretisch Anrecht darauf haben, ökonomisch erfolgreich zu sein, dass alle mit guten Leistungen schulisch gute Bildungsabschlüsse machen dürfen. Vielmehr zeigt sich, dass die Verwirklichung der Chancen von vordefinierten Startbedingungen abhängt, die nicht für alle gleich fair sind.

So meinte John Rawls 1971 in A Theory of Justice, dass Chancengerechtigkeit (equality of opportunity) dann gegeben sei, wenn Individuen mit demselben angeborenen Talent und demselben Ehrgeiz dieselbe Aussicht auf Erfolg im Wettstreit mit andern haben.

Wie aber lässt sich das in der Praxis sicherstellen, wenn die Startbedingungen nicht dieselben sind, wenn ich z.B. ein Kind bildungsferner Eltern bin, wenn die Schule mein Potenzial verkennt, wenn ich fremdsprachig bin, wenn ich ADHS habe, etc.?

Die Antworten auf diese Frage sind abhängig von der Weltanschauung, den Interessen und vom Menschenbild der Antwortenden. Ich versuche eine Typisierung:

1. Position der Ergebnisgleichheit

Wenn die Startbedingungen nicht beeinflusst werden können, soll die Chancengleichheit post festum durch Umverteilung oder durch ökonomische Gleichstellung der Ungleichen herbeigeführt werden. Es ist die sozialistische Position, bei der Löhne und Lebensverhältnisse für alle gleich angesetzt sind.

2. Position der Startgerechtigkeit

Kinder aus bildungsmässig benachteiligten Milieus werden früh in staatliche Obhut genommen, um ihre schulischen Startchancen mit Anstossprogrammen und Sprachförderung zu verbessern, die klassische Frühförderung ab Kinderkrippe.

3. Position der Reformpädagogik und der Digitalisierung

Die Schule versucht Startnachteile auszugleichen durch individuelle Förderung, durch digitale Applikationen, durch soziale Interaktion, durch leistungsheterogene Arrangements in Gesamtschulen, durch selbst organisiertes Lernen. Das alles soll jeglicher Diskriminierung entgegenwirken und den Talenten zwangsfrei zum Durchbruch verhelfen.

4. Position der Standardisierung und Optimierung

Staatliche Behörden erhoffen sich von standardisierten Zielvorgaben, von der Ausrichtung auf Kompetenzen und von regelmässigen Leistungserhebungen eine qualitative Steigerung der schulischen Effizienz, die auch auf die Chancengerechtigkeit durchschlägt, nach dem Vorbild ökonomischer Optimierung bei Produktions- und Dienstleistungsbetrieben.

5. Position der Realisten

Den interventionistischen Positionen 1 – 4 ist gemeinsam, dass sie Menschen (teilweise in bester Absicht) künstlich optimieren und umprogrammieren, mithin für bestimmte Zwecke fit machen wollen. Die realistische Position versucht, die Kinder so anzunehmen, wie sie sind, und sie im Rahmen der individuellen Möglichkeiten unvoreingenommen möglichst so weit zu fördern, als es unter schulischen Bedingungen möglich ist. Die Schule wird als Ort gesehen, der Möglichkeiten zur Entwicklung bietet, auch wenn diese nicht von allen genutzt werden können und selbst wenn Ungleichheiten bestehen bleiben. Dennoch wird ein Grundstein gelegt, der auf dem weiteren Lebensweg mit den vielen Möglichkeiten der Fort- und Weiterbildung noch lange für weitere Entwicklung und sozialen Aufstieg genutzt werden kann.

]]>