21. Dezember 2024

Ein Literaturtipp: Jason Reynolds Long Way Down

Condorcet-Autor Alain Pichard hat einen Roman des US-amerikanischen Jugendautors Jason Reynolds (Washington) entdeckt und ihn mit seinen Schülerinnen und Schülern gelesen. Sein Fazit: Eine beeindruckende Klassenlektüre, die man sich und den Schülerinnen und Schülern nicht entgehen lassen sollte.

Alain Pichard:
Kein Ghetto-Klischee!

Jason Reynolds war mir kein Begriff. Ich erfuhr nebenbei, dass sein Roman «Long Way Down» den deutschen Jugendbuchpreis erhalten habe.  Meine Frau kaufte sich das Buch und las es an einem einzigen Nachmittag zu Ende. Dann gab sie es mir und meinte: «Bin gespannt, was du sagst!»

Beim Aufschlagen des Buchs bemerkte ich natürlich sofort seine Einzigartigkeit. Die 324 Seiten sind in Versform geschrieben. Sie erzählen die Geschichte des jungen Will, den schrecklichen Tod seines Bruders und die “logischen” Konsequenzen, die ein tribales Leben im Ghetto zur Folge haben.

Erschossene Freunde oder Familienangehörige finden sich in vielen Jugendromanen afrikanisch-amerikanischer Schriftsteller. Sie sind ein Thema in der Lebenswirklichkeit junger Schwarzer in den Ghettos Amerikas. Und natürlich besteht hier immer die Gefahr des substanzlosen Voyeurismus, wenn man deren Geschichten in Buchform oder Filmen mit Jugendlichen in der behüteten Umgebung einer Agglomerationsgemeinde behandelt.

In diesem Vers-Roman besteht die Gefahr aber nicht. Reynolds geht keineswegs einem kitschigen Black-Ghetto-Klischee nach, sondern schildert das abgrundtiefe Dilemma des Zurückgebliebenen, des sechzehn Jahre alten Will, der eines Morgens mit der Waffe seines Bruders zu Hause in den Aufzug steigt, fest entschlossen, einen Mord zu begehen. Rache zu nehmen, würde er selbst sagen. Den Regeln zu folgen, die er vom älteren Bruder gelernt hat und denen des Vaters: nicht weinen lautet die erste, nichts sagen die zweite und die dritte: Nimm Rache.

Nicht weinen lautet die erste Regel, nichts sagen die zweite und die dritte: Nimm Rache.

Neben der Eindringlichkeit seiner Verse überzeugt auch die Anlage des Romans, die Fahrt im Lift. «Auf dem Weg nach unten hält der Fahrstuhl auf jeder der sieben Etagen einmal an und lässt jeweils einen anderen Gast einsteigen; alles Menschen, die in Wills Leben oder im Leben seines verstorbenen Bruders eine wichtige Rolle gespielt haben.  Diese Menschen erzählen Will von ihren Erfahrungen; erzählen ihm ihre Geschichten, die erfüllt sind von Gewalt, Hass und Rache. Währenddessen werden nicht nur Will immer mehr Dinge bewusst; Dinge, die ihn sein Vorhaben aus einem komplett anderen Blickwinkel betrachten lassen, sondern auch man selbst als Leser fängt an zu hinterfragen und besser zu verstehen. Symbolisch steht die Fahrt im Fahrstuhl mithin für die Entscheidungsfindung.» Ivy Booknerd  ( https://ivybooknerd.com/rezension-long-way-down-jason-reynolds )

Jason Reynolds lässt in „Long Way Down“ einen Jungen am Ende seiner Kräfte in Versform erzählen. «Was soll denn das?», schrieb eine meiner Schülerinnen, «das geht doch gar nicht, ein ganzes Buch lang Gedichte zu lesen, die eine Geschichte erzählen. Und doch merkte ich bald, es geht. Es geht sogar so gut, dass ich als Lesemuffel das Buch an einem Nachmittag fertiggelesen hatte», schrieb die 9. Klässlerin.

Die Form des Buches lässt auch ganz neue Bearbeitungsweisen zu, wie zum Beispiel eine Interpretation und gleichzeitige musikalische Begleitung in Zusammenarbeit mit dem Musiklehrer. Diese freien Verse, stark einem Rap ähnelnd, finden starke Bilder und können in wenigen Wörtern alles erzählen. Jason Reynolds, der bis im Alter von 17 Jahren gar kein Buch gelesen hatte, ihn die Geschichten nie interessierten, weil sie nichts mit seiner Lebenswelt zu tun hatten, wurde letztes Jahr zum Botschafter für Jugendliteratur ernannt. Eine Würdigung für seine Verdienste, unzählige Jugendliche zum Lesen gebracht zu haben.

Mit Versen wie: Als habe ein Fremder mit einer Zange einen Backenzahn gezogen, und man spüre nun das Pochen im Kopf, den Druck auf den Ohren, das heraussickernde Blut. „Aber das Schlimmste / das Allerschlimmste / ist deine Zunge / die ständig in dem neuen Loch bohrt / von dem du weißt / dass da ein Zahn sein sollte / aber keiner mehr ist.“

 

Das Buch kostet 23 Fr.

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Unser Condorcet-Autor Alain Pichard ist in Basel aufgewachsen und lebt seit über 40 Jahren in Biel. Condorcet-Autor Roland Stark, gebürtiger Appenzeller, wirkt seit Jahrzehnten in Basel. In beiden Städten finden derzeit Wahlen statt. In beiden Städten gibt es Bildungsprobleme und beide werden links regiert. Roland Stark und Alain Pichard wundern sich über das Schweigen der linken Parteien zu Bildungsthemen.

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